Karnickel

2. Mai 2020 Selma 0

„Hänschen entwickelte sich zu einem riesengroßen Prachtexemplar, und wenn wir Kinder nach ihm riefen, kamen er in Riesensätzen von irgendwoher angepirscht. Die Sparziergänger trauten oft ihren Augen nicht. Abends schlossen wir die Luke und Hänschen sauste nachts in der Schloßküche mit erheblichem Krach herum. Seine Toilette waren ausschließlich die Eierkohlen. Aus irgendeinem Grund hatte er sich diese dazu ausersehen.“

Hühner

2. Mai 2020 Selma 0

Am liebsten saß der Hahn ganz oben in einem der Haselnussbäume krähte zur Freude der vorbeigehenden Passanten. War der Hahn auf einen Baum geflogen, und zwar oft so hoch wie nur die Singvögel, dann setzte sich die Ente ergeben und geduldig genau darunter und quakte. Das Duett war vollkommen.

Die Lies

2. Mai 2020 Selma 0

„Nun hatte die Lies aber auch von Zeit zu Zeit männlichen Besuch, und wir zwei wurden furchtbar eifersüchtig. Besonders einen Freund, der mehrere Male aus Berlin angereist kam, konnten wir nicht leiden. Recht bald hatten wir raus, dass er die Lies schamlos ausnutzte. Dieser Kerl landete zu Liesens großem Kummer wegen sittlichen Verfehlungen im Gefängnis.“

Bomben auf Schmalkalden

1. Mai 2020 Selma 0

„Noch ehe die Sirenen den Hauptalarm ertönen ließen, waren die Bomber schon über uns. „Die werfen Leuchtbomben.“ In panischer Angst wollten wir vom Fenster weglaufen, aber schon hatten die Bomben eingeschlagen und warfen uns mit ihrer Druckwelle im vollen Bogen zurück ins Zimmer. Wir schnappten unseren kranken Bruder und rannten in den Luftschutzkeller.“

Stadttrottel

1. Mai 2020 Selma 0

Streng war’s verboten, auf das Hitlerregime zu schimpfen. Dererlei Leute verschwanden sang- und klanglos in den Konzentrationslagern. Nach langer Zeit erschienen sie todkrank wieder oder überhaupt nicht mehr. Auch der Berthold verschwand eines Tages aufgrund seiner Schimpfereien. Nach einiger Zeit tauchte er still und krank wieder auf, wartete ergeben auf den Tod, der ihn auch recht bald erlöste.

Evakuierte

30. April 2020 Selma 0

„Auch der Bruder meiner Mutter kam mit einem Teil seiner Kinder zu uns. Ihm war auf der Flucht aus Danzig seine Frau erschossen worden, und nur mit Unterhose und Hemd bekleidet, musste er mit seinen vielen Kindern allein in dem Flüchtlingspulk in Güterzügen weiterfahren.“

Selbstmord eines Nazis

29. April 2020 Selma 0

Meine Schwester Erna hörte ein Stöhnen und fand den Mann in unseren schönen Himbeeren liegend, blutend. Er hatte das dicke Seil abgemacht, das unsere Himbeeren zusammenhielt, sich eine Schlinge um den Hals geknüpft und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Vorsichtshalber wollte er sich noch erhängen. Das morsche Seil hielt nicht. Er fiel genau in die prachtvollen Himbeeren.

Besatzungsmacht

29. April 2020 Selma 0

„Ausgangsverbot und Straßensperre. Uns langweilte das und wir spielten wie früher Ball oder Verstecken. Die vorbeilaufenden Amerikaner, nicht älter als wir, guckten interessiert zu, fühlten sie sich dort oben am Schloß so sicher, dass sie mitspielten. Zuerst mit Stahlhelm und Gewehr. Aber es störte sie beim Rennen sehr, und so stellten sie beides irgendwo hin und hofften, dass kein Offizier vorbeikam.“

Herr Hocke

28. April 2020 Selma 0

„Herr Hocke wohnte in Kassel am Ständeplatz,. Daher kannte er auch die ganzen Fenner-Kinder und ebenso ihre Mutter, meine Großmutter Selma, geborene Ranke. Sie wäre eine große, flotte und fröhliche Frau gewesen mit lauter Stimme und recht fortschrittlich eingestellt. Sie lief ohne Hut ins nächste Geschäft – vollkommen unvorstellbar.“

Der große Schweiger

27. April 2020 Selma 0

Als Hitler an die Macht kam, marschierte er, groß und stattlich, in seiner SA-Uniform im Städtchen herum. Er fiel stets bei Parteiversammlungen und sonstigen Anlässen auf, wo er, meist stumm (daher der Name), mit bedeutender Miene dabeistand. Ich, als kleines Mädchen, dachte mir, dass er irgendeinen hohen Posten innehaben müsse.

Das Museum

26. April 2020 Selma 0

„Mein Bruder wusch im Laufe der Zeit diese Bemalungen frei und renovierte sie. Ein paar Jahre nach dem Krieg hat es ein „Kulturmensch“ dann aber geschafft, meine Eltern aus der Wohnung zu jagen. Foto: Der Eingang zu unserer Wohnung und der Ofen im Weißen Saal.

Flucht in den Westen über Tempelhof

26. April 2020 Selma 0

Schauspielschule? Prüfung bestanden, aber kein Geld, und dann schwanger. Es wird auch immer ungemütlicher in der DDR. Hunderttausende flüchten jedes Jahr, Selma im Dezember 1952. Wie bereitet man eine Flucht eigentlich vor? Wie kommt man über Berlin vom Osten in den Westen?

Nachwort Robert Eberhardt

26. April 2020 Selma 0

„Selma Giebel bereitet zur Zeit ihren 80. Geburtstag vor. Er soll dieses Jahr, 2005, gefeiert werden. Entweder in Berlin oder in der alten Heimatstadt Schmalkalden – der Stadt, an die sie sich noch oft erinnert …“

Meine Reise zu Karl nach Breitungen

25. April 2020 Selma 0

Jetzt kann Karl überhaupt nicht mehr stehen, alles ist steif. Er sitzt wie eine Holzpuppe in seinem Stuhl. Ich erzähle, er antwortet nicht. „Da antworte doch mal“, sage ich, „oder verstehst du mich nicht?“ Doch, sagt er und gibt die richtige Antwort.

Selmas Leben in Dokumenten

24. April 2020 Selma 0

Zeugnisse, Bescheinigungen, Arbeitsbücher: Es sind nur einzelne Dokumente von vielen, die Selma aufbewahrt hatte. Meine Auswahl ist natürlich subjektiv – wie alles hier. Das Schuljahr […]

Weltreise durch Botschaften in Berlin

24. April 2020 Selma 0

„005, Selma wohnt bereits einige Jahre in Berlin, nimmt sie teil an einer geführten Tour entlang der Botschaften in ihrer Nähe. Foto: Vom Balkon ihrer Wohnung aus blickt man genau auf die chinesische Botschaft

Pfandrückgabe

26. April 1999 Selma 0

„Waaas, ein Holzfass auch noch, das ist ja nicht möglich! Holzfässer vermieten wir schon lange nicht mehr. Falls es tatsächlich ein Holzfass wäre, dann war das nicht erst vor einem Jahr. Unter diesen Umständen ist außerdem das Fass völlig unbrauchbar, denn wenn es so lange ohne Bier irgendwo herumgestanden hat, dann ist es total ausgetrocknet und nicht mehr zu verwenden.“

Selma Fenner, Tagebuch Nr.6, Januar 1982 bis Dezember 1990

31. Dezember 1990 Selma 0

Kippe in der Hand, Bierflasche auf dem Tisch. Selma besucht mit ihrer Mutter ihren Bruder Karl in Schmalkalden. Viel später, als sie im Pflegeheim ist, wünscht sie sich „Ich möchte nochmal in die Ostzone.“ – Ich: „Die gibt es nicht mehr.“ – „Ach, schade.“