Besatzungsmacht

Foto: Unten der Entersteich, S. 24

Besatzungsmacht

Das Kriegsende rückte näher und damit die Angst, was werden sollte. Besetzten uns die Amerikaner oder die Russen? Ich wurde damals zwanzig Jahre alt.

Zuerst erschienen die Amerikaner (die verteilten „Notzeitungen“, die wegen des Papiers sehr begehrt waren), und wir waren glücklich darüber, denn man erzählte sich furchtbare Geschichten von Greueltaten der Russen. Die Amerikaner besetzten an einer Seite unseres Berges einen Gasthof und an der anderen Seite die Knabenschule. Bei Wachablösung oder Dienstschluss liefen die jungen Kerle oft nicht den kürzeren Weg durch die Stadt, sondern kamen über das Schloss marschiert. Immer mit Stahlhelm und schussbereitem Gewehr. Wir Deutschen hatten am Tag nur ein paar Stunden Zeit, einzukaufen oder Besuche zu machen. Ansonsten war für uns Ausgangsverbot und Straßensperre. In dieser Zeit taten sich die Nachbarn weit enger zusammen als früher, denn es ließ sich leichter bewerkstelligen, mal schnell von einer Haustür zur anderen zu hüpfen. Zeitungen gab’s keine, und so saß man zusammen und erzählte, meist vom Essen, oder spielte irgendwelche Spiele.

Unsere Mütter versuchten, sich vor dem Schloss zusammenzusetzen und da sie nicht vertrieben wurden, saßen sie dort oft. Uns Jüngere langweilte das und wir spielten wie früher Ball oder Verstecken. Die vorbeilaufenden Amerikaner, selbst nicht älter als wir, guckten interessiert zu, und allmählich fühlten sie sich dort oben so sicher, dass sie mitspielten. Zuerst mit Stahlhelm und Gewehr. Aber es störte sie beim Rennen sehr, und so stellten sie beides irgendwo hin und hofften, dass kein Offizier vorbeikam. Abends saßen wir auf der Mauer, mit Blick auf die Stadt, zusammen und erzählten oder wir gingen alle miteinander spazieren. Eines Tages verrieten uns die Soldaten, dass sie nun wegkämen und die Russen in diese Gegend einzögen. Ein Stück Thüringen wurde für einen Teil Berlins getauscht. Wir konnten die Sache nicht glauben. Warum auch sollte plötzlich gewechselt werden? Aber es stimmte. Die amerikanischen Truppen wurden abgezogen und die ersten Russen erschienen. Sie ließen sich auf der Wiese, dicht am Teich, unter dem Schloss nieder.

Selma hat alles gut vorbereitet. Auf zahlreichen Fotos oder auf Postkarte sind vorne Beschreibungen. Alle Fotos sind hinten genau beschriftet. „Wir“ = unsere Wohnung im Schloss.

Die Panjewägelchen wurden der Reihe nach aufgestellt und verbunden mit Zeltbahnen. Die Pferde weideten rundherum. Wir guckten von unseren Fenstern aus zu und sahen erstaunt, dass eine Reihe uns wohlbekannter Mädchen unseres Städtchens unter diesen Zeltbahnen verschwanden. Von irgendwo wurden Matratzen herangeschleppt und nachts tönte ein Raunen und Kichern bis zu uns herauf. Nach ein paar Tagen verschwanden diese Soldaten und es erschienen ganze Truppen Russen, die aber in Motorfahrzeugen angerollt kamen und Schulen nebst Gasthöfen und ihre Säle besetzten.

Offiziere quartieren sich auch bei Familien ein. Zu uns kamen sie aber nicht. Zwar erschienen fast jeden Tag irgendwelche Soldaten und durchschritten die Wohnung, aber sie war ihnen nicht komfortabel genug und wir hatten das Empfinden, dass es ihnen jedesmal unbehaglich wurde, wenn sie die vielen Räume durchschritten und zum Schluss überhaupt nicht mehr wussten, wo sie waren. Nein, sie suchten sich Häuser mit Zentralheizung und modernen Badezimmern aus. Wir Mädchen nahmen zwar sofort bei einer Frau, die lange Zeit in Russland, gewesen war, Russischunterricht, aber wir bekamen mit diesen Soldaten keinen Kontakt. Die meisten waren äußerst misstrauisch und meine Mutter und die anderen in der Umgebung hielten uns Mädchen nun lieber im Hintergrund.

Neben dem Teich lag das Gefängnis unseres Städtchens zwischen riesig hohen Mauern. Wir konnten von unseren Wohnungsfenstern direkt hinunter in den Hof und Garten des Gefängnisses sehen. Früher befanden sich darin immer zwei bis drei Gefangene, die meist im Garten des Gefängniswärters arbeiteten. Jetzt aber war das Gefängnis voller „Kriegsverbrecher“. Um sich lieb Kind zu machen, denunzierten die Deutschen all die Leute, die sie nicht leiden konnten oder auf die sie eifersüchtig waren. Die Denunzianten marschierten zur GPU und erzählten irgendeine Lüge, und schwupp saß der Verratene im Gefängnis. Diese armen Gefangenen wurden Tag und Nacht von den Russen verhört. Sie hatten irgendetwas zu gestehen, was sie nicht getan hatten. Die Häuser rings um das Gefängnis mussten von Zivilleuten geräumt werden. Wir hatten große Angst, dass wir unsere Wohnung auch verlassen müssten. Mehrere russische Patrouillen erschienen und erkundeten, was wir von unseren Fenstern aus sehen konnten. Aus welchem Grund, weiß ich nicht, aber wir durften wohnen bleiben. Nur hatten wir das strenge Verbot, niemals die Fenster zu öffnen, die nach dem Gefängnis lagen. Wir hielten uns streng daran und nur nachts lüfteten meine Eltern. Wenn die Gefangenen, von denen wir einen großen Teil kannten, im Gefängnishof herumgeführt wurden, kam es nicht selten vor, dass mehrere ohne einen Grund zusammengeschlagen wurden. Nachts hörten wir die entsetzlichen Schreie der Opfer, die bei den unausgesetzten Verhören gequält wurden, und am nächsten Tag passten wir auf, ob einer unserer Bekannten beim Hofspaziergang fehlte. Eines Nachts erschienen mehrere Lastwagen mit Planen darüber. Wir konnten kaum etwas erkennen, waren aber sicher, dass die Gefangenen verladen wurden. Das war auch so, denn am nächsten Tag ging kein Gefangener mehr spazieren. Man hörte monatelang nichts von den Leuten und die Familien verzweifelten.

Eines Tages fand ein Bauer an einem Dörfchen nicht weit von unserer Stadt neben seinem Feld ein Massengrab. Hier lagen sie, die armen Gefangenen, sämtlich durch Genickschuss getötet. Nicht ein Landesverräter war darunter, denn die hatten sich sämtlichst beizeiten, feige wie sie waren, aus dem Staub gemacht. Das Leid war groß, aber laut durfte man nichts sagen, sonst verschwand man ebenfalls. Das Verbrechen wurde totgeschwiegen und mit der Zeit verblassten der Hass und das Grauen.

Warum aber plötzlich die Russen unsere Besatzungsmacht wurden, erfuhren wir erst sehr viel später. Die Amerikaner hatten einen großen Teil Thüringens gegen einen Teil Berlins eingetauscht.