Der große Schweiger

Der Große Schweiger

Es gibt ja eine Menge verrückter Leute. Einer davon war der „Große Schweiger“. Eigentlich hieß er Luther. Aber er war halt der Schweiger, und es dauerte lange, bis ich wusste, wie er wirklich hieß. Er wohnte, mit einem Bruder, bei seiner Mutter auf dem Neumarkt. Diese, eine kleine alte und verhärmte Frau, hatte ihre liebe Not mit den zwei Söhnen, denn beide taugten nichts. Von dem Bruder weiß ich wenig. Er heiratete, schon älter, in ein Gemüsegeschäft ein, wurde aber von seiner Frau bald wieder davongejagt, weil er stinkfaul war. Er erhängte sich.

Der andere, hoffnungsvolle Bruder studierte Lehrer, kam aber über die erste Prüfung nicht hinweg. Von dieser Zeit an machte er eigentlich gar nichts. Als Hitler an die Macht kam, trat er in die Partei und SA ein. Ab da kannte ich ihn eigentlich erst, denn er marschierte, recht groß und stattlich, oft in seiner SA-Uniform im Städtchen herum. Eine Glatze hatte er und jedem sah er, wenn überhaupt, von oben herab an, ohne auch nur ein winziges Stück seinen Kopf zu bewegen. Er wirkte hochmütig und arrogant. Wie sich später herausstellte, war es nur seine furchtbare Unsicherheit. Von was er lebte, weiß ich nicht. Sicher von der Rente seiner Mutter. Er fiel aber stets bei Parteiversammlungen und sonstigen Anlässen auf, wo er, meist stumm (daher der Name), mit bedeutender Miene dabeistand. Ich, als kleines Mädchen, dachte mir, dass er irgendeinen hohen Posten innehaben müsse. Das war aber nicht der Fall. Er war kein unangenehmer Mann, denn er denunzierte niemanden und machte auch sonst keine üblen Geschichten wie so viele Genossen seiner Zeit.

Irgendwie wurde er dann im Krieg doch als Lehrer eingesetzt. Er kam nicht zur Front wie viele andere Lehrer. Als ich mit meiner Freundin Hannelore vom Gymnasium auf die zweijährige Handelsschule wechselte, hatten wir den Mann als Lehrer in „Staatskunde“. Aber noch nicht mal bissle lehren konnte er, was wir natürlich prima fanden. Er merkte sich nie einen Namen seiner Schüler. Wenn die Stunde anfing, erschien er stumm in der Klasse, setzte sich vorne am Pult auf den Stuhl, entfaltete vor sich das „Reich“ und las uns irgendwelche bedeutenden Artikel vor. Er hielt die Zeitung so hoch, dass wir nichts von ihm sahen und er uns nicht. Noten aber musste er uns ja geben, und das erledigte er auf einfache Weise. Nacheinander kamen wir dran und mussten irgendwelche Geschichtszahlen nennen und wissen. Dabei hatte man eben Glück oder nicht. Am Schluss der Stunde schlurfte er aus der Klasse ohne ein Wort und nicht etwa mit einem strammen „Heil Hitler“, das wir dann hätten erwidern müssen. Übrigens kam dies, was eigentlich Vorschrift war, nur in den allerseltensten Fällen vor.

Ich ging nach der Mittleren Reife in anderen Städten (Meiningen und Weimar) weiter zur Schule, weil in Schmalkalden die Möglichkeit in dieser Fachrichtung nicht bestand. Der Große Schweiger kam mir aus dem Sinn.

Als die Nachkriegszeiten vorbei waren und eine Völkerwanderung über die Grenze von Ostdeutschland nach Westdeutschland begann und man Glück hatte, an der Grenze nicht geschnappt zu werden, zogen erst Bekannte von uns über das Niemandsland nach Westdeutschland und später auch wir über Berlin nach Kassel. Diese Bekannten, auch nach Kassel gezogen, trafen plötzlich den Großen Schweiger dort wieder. Er hatte sich in panischer Angst, obwohl nie denunziert, in den Westen geflüchtet. Wir haben alle gegrübelt, wie er das wohl fertiggebracht hatte. Er bildete sich aber ein, ein ganz Großer gewesen zu sein und daher verfolgt zu werden. Er war so weltfremd und tat von jeher alles, dass es niemand merkte. Aber auch in Kassel fühlte er sich nicht sicher. Er traute keinem und vagabundierte so dahin. Meine Bekannten trafen ihn, sprachen ihn an und nach vielem Zureden erschien er ganz selten bei ihnen zum Essen. Geld war ja in der Nachkriegszeit sehr knapp und gerade den von „drüben“ Geflüchteten ging’s besonders schlecht. Sie hatten halt alle sehr in allen Dingen zu kratzen, den Hübigen und den Drübigen.

Als wir dann 1952 nach Kassel übersiedelten ohne irgendetwas außer einigen unauffälligen Kleinigkeiten, sahen wir also den Großen Schweiger ständig durch die zerbombten Straßen latschen. Er hatte einen langen Uniformmantel an und sah und hörte nichts. Nach ein paar vergeblichen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ließen wir es bleiben. 1956 konnten wir auch meine Eltern nach Kassel holen. Als Rentner ging das, weil sie dann nicht mehr der DDR geldlich zur Last fielen. Sogar Möbel und so weiter durften sie mitnehmen, nachdem alles mehrmals geprüft worden war und jedes Stück, auch das kleinste, aufgelistet werden musste. Mein Vater kannte Herrn Luther ja bissle besser. Auch er sprach ihn an und hatte das Gefühl, dass der Mann sich in Grund und Boden schämte. Trotz vielen Einladungen kam er nie zu meinen Eltern. Aber auf der Straße standen sie öfter zusammen und er erzählte meinen Eltern mit seinem langsamen, monotonen Gerede seine Geschichte. Er hatte so eine Angst, dass er sich nicht in Kassel angemeldet hatte. Als es noch vor nicht so langer Zeit Lebensmittel gab, da waren wir noch nicht übergesiedelt, bekam er aus diesem Grund keine. Außerdem, noch schrecklicher, keinen Pfennig Unterstützung. All die Jahre über lebte er unter freiem Himmel, in Ruinen und vorwiegend auf Friedhöfen. Wovon er lebte, das weiß keiner. Zum Schluss hatte ihn eine Frau aus Mitleid aufgenommen, eine Witwe. Sie kümmerte sich ein bisschen um ihn. Dort starb er auch, etwa sechzigjährig. Er war buchstäblich von all dem Hunger und immer noch vor Angst eingegangen.

Ich schickte später meinem Bruder Karl meine Geschichterchen zum Lesen. Er verbesserte allerlei und schickte es mir dann zurück. Beim „Großen Schweiger“ ergänzte er die Geschichte am 5. November 1999 mit Folgendem:

Das Handikap seines Lebens war eine Phimose. Das wurde erst nach seinem Tod im Krankenhaus klar. Als ganz junger Mann war er in Schmalkalden mit einer jungen Dame aus gutem Haus verlobt. Diese Verlobung zog sich endlos hin und führte zu keiner Heirat und schließlich zu einer Entlobung. Den Grund der Geschichte wusste damals niemand. Seine Phimose führte zum Rückzug von den Frauen und zu seiner Vereinsamung. Wer ihn zum Schluss ins Krankenhaus bringen ließ, weiß ich nicht. (Karl wohnte noch in Schmalkalden). Er kam mit einer schweren Blutvergiftung ins Krankenhaus, deren Ursache eine riesige Vereiterung am Penis unter der Vorhaut war. Er war nicht mehr zu retten. Er ist aus Scham über seine Vorhautverengung nicht zum Arzt gegangen und hat damit sein ganzes Leben ruiniert. Die Operation als junger Mann wäre ein Klacks gewesen. Der arme Kerl!

24. März 76