Die Lies

Die Lies

In einer der kleinen Schlosswohnungen (Dienerwohnungen) lebte ein altes Ehepaar mit seiner Tochter. Der Mann war Gendarm zu Pferde gewesen, und wenn man es nicht wusste, sah man es an seinen etwas angewinkelten Beinen und besonders an dem prächtig nach oben stehenden Schnurrbart. Dieser Schnurrbart war sein Heiligtum und er pflegte und hegte ihn. Wenn wir Kinder mal unverhofft in die Wohnung kamen, was er überhaupt nicht liebte, trug er ständig eine Schnurrbartbinde, die den Bart schön in Form hielt. Auch färbte er sich den Bart. Das war aber auch seine einzige Eitelkeit. Es war ein sehr wortkarger Mann und wir Kinder waren ein Greuel für ihn. Dabei wollte er finster und böse wirken, obwohl er eine Seele von Mann war und besonders unsere Mutter sehr verehrte. Meine Mutter war die einzige von der gesamten Nachbarschaft, die sich zu ihm setzte und sich lange und angeregt mit ihm unterhielt. Auch bei seiner Frau, die damals schon den zweiten Schlaganfall hatte, saß sie oft nachmittags und handarbeitete irgendetwas dabei. Die Frau konnte sich kaum bewegen und der so hart wirkende Gendarm pflegte und half ihr rührend. Er führte sie mehrere Male am Tag zu ihren Gärten vor dem Schloss, und auch wir wurden angehalten, die Frau dabei oft zu besuchen. Sehr oft wurde das nicht, denn obwohl sie sehr nett war, wussten wir durchaus nicht, was wir uns mit ihr unterhalten sollten, da es immer lange dauerte, bis die Kranke einen Satz herausbekam. Immerhin sagten wir ihr zwanzigmal am Tag mit einem artigen Knicks guten Tag, eben wenn sie vorbeigeführt wurde oder am Fenster saß und uns zusah. Dafür bekamen wir ab und zu eine Tafel Schokolade geschenkt, was damals noch eine große Sache bedeutete. Bald starb die Frau und kurz darauf ihr Mann und die zwei Söhne kamen zu der Beerdigung.

Ab da war die Tochter, die Lies, allein. Damals zählte sie ungefähr 35 Jahre. Sie war die „Herbergsmutter“ der auch im Schloss liegenden Jugendherberge. Nur kam damals noch fast niemand. Primitiv wirkte sie, die Herberge, aber wir liebten sie. Ein riesengroßer, etwa fünf Meter hoher Raum mit Steinwänden und Fußboden sollte der Tages- und Essraum sein. Später wurde Parkett gelegt, das sich aber in kurzer Zeit hob. Große lange Tische und Bänke standen inmitten des Raums, und ein paar Kugellampen erhellten das Zimmer, das eigentlich schon ein Saal war, spärlich. Der Nebenraum wurde als Waschraum ausgebaut, nämlich mit ein paar Steinwaschbecken an der Wand. Er hatte auch Steinfußboden und lag obendrein noch nach der Ostseite, war also ekelhaft kalt. Von hier und von dem Tagesraum aus führte eine schmale Holztreppe jeweils in ein weit niedrigeres Gemach, das Mädchen- und Jungenschlafzimmer. Etwa dreißig Betten in jedem, immer zwei übereinander, standen darin. Früher lagen Strohsäcke in den Betten, später Matratzen. Zwei Toiletten, schon Wasserklosetts, an jedem Schlafzimmer eins, vervollständigten die Jugendherberge. In der anderen Ecke des Schlosses wohnte die Lies in ihrer Wohnung, nun sechs Zimmerchen und Küche nebst vielen Nebenräumen, mit denen wir alle ja in Mengen gesegnet waren. Sie musste also unausgesetzt, falls mal Gäste da waren, über den Hof wetzen mit ihrem Geschirr und Essen und so weiter.

Seitdem Liesens Eltern tot waren, zog es meinen Bruder, der ein Jahr älter war als ich, und mich immer öfter rüber zur Lies. Da sie niemanden hatte, schloss auch sie sich uns sehr an und behandelte uns wie Erwachsene. Sie besprach jedes Ding mit uns und gemeinsam kamen wir zu einem Schluss. Das hob unser Selbstbewusstsein unheimlich. Meine Mutter schimpfte zwar immer mal, dass wir erst unsere Aufgaben machen müssten, aber im Grunde erlaubte sie uns den Besuch bei Lies, wie wir überhaupt alles, was mit Beschäftigung und sinnvollem Spielen zusammenhing, erlaubt bekamen.

Es ist aber auch so, dass wir, ohne zu übertreiben, der Lies zwei Hilfskräfte ersetzten, wenn endlich mal Herbergsgäste kamen. Jedesmal vorher wurde die Jugendherberge vorbildlich saubergemacht von uns dreien und jedes Bett wurde überzogen mit einem karierten Laken. Das kleine flache Strohkopfkissen wurde in einen blaukarierten Kissenbezug gesteckt und eine Decke in ebensolchen Bezug. Obenauf am Fußende legten wir noch je eine Decke. Blumen wurden im Tagesraum auf den Tisch gestellt, und wir betrachteten unser Werk liebevoll und wurden sehr enttäuscht, wenn die Gäste kamen und entsetzt über die Räumlichkeiten waren. Ein besonderes Minus bildeten die Toiletten. Es waren natürlich zu wenige und meist verstopft. Mein Bruder und ich entwickelten aber mit der Zeit eine perfekte Fertigkeit, diese mit langem Draht und ähnlichem in kurzer Zeit wieder sauber zu bekommen. Ebenso behandelten wir die Waschbecken und konnten nicht verstehen, warum sie ständig so dreckig hinterlassen wurden.

Nur im Tagesraum stand ein riesengroßer Eisenofen. Er fraß ungeheure Mengen Kohle und Holz und in seiner Nähe konnte man es schon aushalten im Winter. Etwas weiter weg aber blieb die Kälte und die Gäste schimpften oft darüber. Wir beiden Gehilfen suchten dann eifrig irgendwie Rat zu schaffen.

Aus der Stadt mussten wir ganze Rinder- und Schweineköpfe hochschleppen für die Lies, die daraus wunderschöne Graupensuppen kochte. Sie warf alles hinein, was sie so hatte. Nudeln, Reis, Kartoffeln, Gemüse, viele Gewürze, und wir aßen die Suppen sehr gerne. Unsere Mutter bekam oft zu hören, wie wunderschön die Lies kochte. Mit der Zeit bekamen wir aber heraus, dass jede Suppe zwar herrlich schmeckte, aber immer genau gleich, während die Suppen unserer Mutter stets andere Geschmacksrichtungen hatten.

Wir bekamen bei der Lies echten Kaffee zu trinken, eine damals unerhörte Sache, denn selbst meine Eltern tranken am Sonntagmorgen nur halb und halb. Nur wenn Besuch kam, wurde echter Kaffee aufgebrüht. Ein halbes Pfund reichte da aber unendlich lange. Also, Kaffee bekamen wir, und zwar ist auch dieses Kaffeekochen erwähnenswert. Lies hatte ein kleines Aluminiumtöpfchen. Darein tat sie den gemahlenen Kaffee, ließ Wasser drauf und kochte das Ganze auf. Der Satz wurde aber nicht weggeworfen, sondern blieb mindestens eine Woche darin mit immer neuem obenauf. Etwa jede Woche wurde das Töpfchen dann gereinigt. Sonst stand es am Rand des Herdes und der Kaffee war also immer griffbereit und warm. Auch ließ sie uns nicht aus, wenn sie mal Malaga oder derlei süße Weine trank. Immer bekamen wir unseren Teil.

Wir saßen in der engen Küche, die am wärmsten war und von der man auch beobachten konnte, was auf dem Schlosshof und dem Herbergseingang vor sich ging. Das Wohnzimmer wurde seltener benutzt. Ein Klavier stand darin. Lies und ihre Brüder konnten Klavierspielen, aber obwohl ich selbst auch Klavierstunde hatte, schämte ich mich immer, dort irgendetwas vorzuspielen. Die Künste waren sowieso bescheiden, aber die von Lies auch. Auf dem Sofa lagen selbst gemalte und gestickte Kissen herum und vor dem Fenster war ein etwa ein Meter breites und vierzig Zentimeter hohes Podium gebaut. Hierauf standen an jedem Fensterende ein Stuhl und in der Mitte das schmale runde Nähtischchen auf drei gebogenen Beinen. Durch die Erhöhung hatte man den richtigen Sitz, um gemütlich aus dem Fenster über die zwei davorliegenden Gärten, den Weg in die Stadt und hinunter auf die Stadt, rechts und links eingeschlossen durch sich sanft erhebende Berge, zu blicken und geradeaus über das endlose Tal weiter bis zum sich erweiternden Werratal.

Die Lies war immer sehr bestrebt, unsere Gunst zu erhalten, denn wir waren ihre einzigen Hilfen. Morgens, wenn wir in die Schule zum Schlosstor hinausrannten, beugte sie sich aus dem kleinen Wohnzimmerfenster und warf uns sehr oft Bonbons oder Plätzchen zu. Sie kochte uns wunderschöne Sahnebonbons, die sie langsam am Rand des Herdes über ein paar Tage schmurgeln ließ, und konnte Tannenspitzensirup kochen, der seinesgleichen suchte. Dazu wanderten wir in die umliegenden Wälder und pflückten Tannenspitzen. Im Winter fuhr Lies mit uns Ski oder wir sahen uns einen Film mit Harry Piel oder ähnlich Aufregendes im Kino an.

Manchmal kam es vor, dass zwei Klassen auf einmal in der Herberge wohnten. Dann mussten wir beide emsig mithelfen, die Suppen vorzubereiten und Brote zu schmieren. Lies lehrte uns, wie wir ganz locker die Butter über das Brot zu streichen hatten. Dann brauchte man wenig und es sah viel aus. Nie durften wir zeigen, wie wir den so beliebten Orangensaft fertigmachten. Aus einer großen Flasche Orangenextrakt wurde der Boden des Glases bedeckt und dann mit Wasser aufgefüllt. Das Glas kostete zehn Pfennig und Lies verdiente an jedem fünf Pfennig, hatten wir genau ausgerechnet. Schon da hatten wir ein schlechtes Gewissen. Mein Bruder bastelte uns einen Bauchladen, womit wir abwechselnd stolz im Tagesraum erschienen. Den Hauptverdienst bildeten die Postkarten des Städtchens. Wir kauften drei für zehn Pfennig und verkauften das Stück zu fünf Pfennig, verdienten also an drei Postkarten fünf Pfennig. Damit füllten wir ganz schön unsere Sparkassen, denn Postkarten wurden viel gekauft. Dann hatten wir beide noch große Mühe, ein Geschäft zu finden, wo die Süßigkeiten recht billig gehandelt wurden, damit wir auch hier einen winzigen Verdienst hatten.

Nun hatte die Lies aber auch von Zeit zu Zeit männlichen Besuch, und wir zwei wurden furchtbar eifersüchtig auf ihre Freunde, da sie uns ja nun nicht die gebührende Zeit widmen konnte und die Korridortür abgeschlossen wurde, während wir sonst immer einfach in die Küche kamen. Besonders einen Freund, der mehrere Male aus Berlin angereist kam, konnten wir nicht leiden. Recht bald hatten wir raus, dass er die Lies schamlos ausnutzte und ein Falott war. Die Lies aber übersah das alles, denn sie brauchte halt immer mal einen Mann. Dieser Kerl bekam das Allerfeinste zu essen und saß, wenn sie zu tun hatte, unten im Städtchen im Café mit irgendeinem jungen Mädchen. Auch fuhr er an die Werra baden und protze dort in schamloser Weise öffentlich mit seiner Männlichkeit. All das hatten wir recht bald herausspioniert und auch, dass Lies ihm alles bezahlte. Eifersüchtig umschlichen wir ihre Wohnung und waren diese Tage auch nicht bereit, ihr zu helfen. Sie stellte in jedes Zimmer Bilder dieses Kerls, und als sie mal nicht in der Wohnung war, drehten wir sämtliche Bilder in ihren Rahmen um und stellten sie in dunkle Ecken. Das Ergebnis war, dass wir tagelang böse aneinander vorbeigingen und uns wütende Blicke zuwarfen. Lies war aber diejenige, die sich wieder durch irgendein Geschenkchen mit uns versöhnte. Dieser Kerl aber landete zu Liesens großem Kummer wegen irgendwelcher sittlichen Verfehlungen im Gefängnis. Die weiteren Freunde waren von kürzerer Dauer und belasteten uns daher weniger.

Lieses Vater fütterte sich eine Ziege und jedes Jahr bekam sie kleine Zicklein. Das war interessant für uns Kinder, und meine Mutter, als besonderer Liebling des Herrn, bekam zu Ostern von ihm ein geschlachtetes Zicklein geschenkt. Im Sommer stand die Ziege, mit einem Seil angepflockt, um das Schloss herum auf einem Stück Wiese, und sie wartete immer darauf, dass wir mit ihr spielten. Dieses Herumhüpfen sah der Besitzer nicht gerne, weil sie dann abends nicht so viel Milch hatte. Die Lies machte herrlichen Käse aus der Milch und auch unsere Familie erbte ab und zu Milch oder Käse. Als der Vater dann starb, schaffte Lies die Ziege ab, aber bald drauf bekam sie einen kleinen Schäferhund, die Asta. Die Asta wurde also von uns dreien aufgezogen und erzogen und es wurde eine recht artige und kluge Hündin aus ihr. Nur trieb sie sich in den Zeiten ihres Heißseins zu sehr herum. Wir beobachteten das mit strenger Miene. Nachts kratzten die Hunde an der großen alten Holzhaustür und hinterließen tiefe Kratzer darin. Diese Biester verfolgten die Asta in Scharen, und wir hatten viel zu tun, sie unentwegt fortzujagen. Mehrmals hingen sie hilflos zusammen, und wir drehten den Hund sachkundig mit den Vorderpfoten nach oben herum, dass die beiden loskamen und wir den Hund angeekelt mit Steinen vertrieben. Eines Tages bekam die Asta dann im Stall Junge. Durch Zufall sahen wir das erste Junge neben ihr liegen und postierten uns also neben sie, um genau zu zählen, wie viel Junge sie bekäme. Die Eltern, so merkten wir, waren manchmal sprachlos, wenn wir abends beim Abendessen, meine Mutter beharrte darauf, dass wir stets dazu erschienen, unsere Erlebnisse schilderten, aber nie tadelten sie.

Jetzt hatten wir natürlich noch mehr zu tun. Neben dem Helfen bei der Lies und auch bei den Eltern, dem Spielen und Aufgabenmachen mussten wir auch noch die vier Hunde großziehen. Die Asta starb bald darauf an Staupe, drei Hunde wurden verschenkt, und nur den Strolch behielt die Lies. Er wurde ein großer, kräftiger Rüde und lief frei herum. Nie hat er irgendjemanden gebissen, aber leider sprang er die Leute vor Freude an und legte besonders gern seine Pfoten auf deren Schultern und leckte ihnen über das Gesicht. Nachts brannte zwar in jedem Tor je eine spärliche Lampe, aber die waren oft kaputt. In den Toren befanden sich mehrere Nischen, und auch durch die zwei großen Eisentore, die noch intakt waren und geschlossen werden konnten, nahmen Liebespaare dieses trockene Versteck gerne an. Nur die Lampe störte eben und wurde also kaputtgeschmissen. Kam nun ein nächtlicher Heimkehrer über das Schloss und Strolch war gerade draußen, kam er angerannt und sprang den Heimkehrer an. Die Leute erschraken natürlich zu Tode und beschwerten sich mehrere Mal bei der Polizei deswegen. Als die Beschwerden härtere Formen annahmen, verschenkte Lies den Strolch an ihren derzeitigen Liebhaber. Den meisten Leuten war es sowieso zu unheimlich, nachts durch das Schloss heimzugehen, und sie machten lieber einen Umweg.

Die Jugendherberge wurde Anfang des Zweiten Weltkrieges geschlossen und Lies übernahm in einem etwa zwanzig Kilometer entfernten Bergstädtchen Brotterode erst ein Kinderheim und später ein Altersheim. Wir zwei besuchten sie dort oft mit unseren Fahrrädern. Wir waren nun schon fünfzehn und sechzehn Jahre alt und der weite Weg machte uns nichts aus, obwohl es bergauf und bergab ging. Wir halfen ihr auch dort in unseren Ferien, zumal wir ja damals in den Ferien, wenigstens zu einem Teil, arbeiten mussten. Lies hatte immer noch ab und zu ihre eigenartigen Freunde. Dies störte uns aber nicht mehr. Vielmehr hatten wir sie nicht mehr für uns allein, weil in dem Heim ja allerlei Helfer und Helferinnen beschäftigt waren. Wir freundeten uns mit diesen zwar schnell an, aber so richtig wohl fühlten wir uns nicht mehr. Eine sehr nette Lehrerin dieses Kinderheims wurde dann am Kriegsende, als das Heim aufgelöst wurde, von meiner Mutter eine lange Zeit aufgenommen, bis sie in einem winzigen Dörfchen in unserer Nähe eine Lehrerinnenstelle bekam.

Immerhin machten wir aber immer mal wieder den weiten Weg zu Lies, schon des Essens wegen. Es gab im Krieg und kurz danach ja wenig zu essen und besonders wir jungen Leute hatten sehr Hunger. Bei Lies erwartete uns zumindest Brot in Mengen, und sie nebst Lehrerin und Küchenpersonal achteten sehr darauf, dass wir nicht zu wenig darauf strichen. Wir bekamen Brote mit und auch Butter und Wurst. Das hatten wir aber nicht den Kindern weggenommen, denn das Heim bekam, als Großabnehmer, den kein Händler verlieren wollte, mancherlei dazugeschenkt. Das hatten wir bald erleichtert herausgefunden, als wir mit den Gehilfen einkaufen gingen.

Als die Lies dann, 45-jährig, ein Altersheim in dem Bergstädtchen bekam, heiratete sie recht bald einen sehr netten Heiminsassen, einen Ostpreußen. Er war damals schon siebzig Jahre alt und hatte mehrere Enkelkinder. Mein Bruder und ich befanden uns damals nicht mehr zu Hause, sondern besuchten auswärtige Schulen, beziehungsweise mein Bruder war im Krieg ganz oben in Finnland. Er schickte mir seinen Sold und ich musste ihm Kunstbücher dafür kaufen. Aber nur für die Hälfte, die andere durfte ich für mich verbrauchen.

Wenn die Lies in unserem Kreisstädtchen zu irgendeiner Behörde musste oder sonst was, besuchte sie jedesmal meine Eltern und besprach mit ihnen ihre Sorgen. Eines Tages erschien sie vollkommen verzweifelt. Sie war monatelang von dem Dorfarzt auf ein Magengeschwür behandelt worden. Als es aber immer größer wurde, bekam der Arzt Bedenken und schickte sie in unser Kreisstädtchen ins Krankenhaus. Dort war man sprachlos, denn sie bekam schon in zwei Monaten ein Baby. Meine Eltern hatten große Mühe, die Lies zu beruhigen und ihr den unglücklichen Fall so schön und schmackhaft wie möglich zu schildern. Auch Lieses Mann traf die Nachricht hart. Nach zwei Monaten aber gebar die Lies in unserem städtischen Krankenhaus ohne besondere Schwierigkeiten ein kleines strammes Mädchen.

Leider wurde zu dieser Zeit das Altersheim aufgelöst, und da die Wohnungsnot furchtbar groß war, bekamen die drei zwei jämmerliche Zimmer. Eins war Wohnzimmer und Küche zugleich und bildete ein enges Dreieck, in das man kaum Möbel stellen konnte. Das unbeheizbare kleine Schlafzimmer befand sich im Obergeschoss. Es war jammervoll. Der Mann konnte das kleine Baby nicht mehr vertragen und hielt sich tagsüber meist im Wald auf und sammelte, was zu sammeln war. Manchmal erschien er auch verzweifelt bei meinen Eltern, ebenso die Lies mit Baby. Meine Eltern konnten sie aber nicht aufnehmen, denn sie hatten zwei Familien in unsere Wohnung hineinevakuiert bekommen und eine Familie hatten sie noch freiwillig aufgenommen nebst immer wechselnden Einzelpersonen. Die Möbel wurden zusammengerückt und jedes Zimmer war besetzt, und dazu gab es nur eine Toilette.

Wenn wir die Lies besuchten und nun unsererseits ihr Sachen brachten, schnitt uns das Mitleid in die Seele. Ihr Mann starb, als das kleine Mädchen etwa zwei Jahre alt war. Lies bekam, wie ihre Mutter, einen Schlaganfall und war nicht wiederzuerkennen. Das kleine Mädchen, damals ungefähr fünf oder sechs Jahre alt, half der Mutter umsichtig und wurde dadurch ein ernstes, sehr stilles Mädchen. Als Lies starb, waren wir zwei nicht zu Hause und meine Eltern fuhren allein zu ihrer Beerdigung, wo sie die Kinder des verstorbenen Ehemannes kennenlernten. Eine Tochter nahm das kleine Mädchen mit zu sich nach Hause.

Nachbemerkung von Karl Fenner, November 1999:

Lies starb zwischen 1958 und 1960. Ich war da als Arzthelfer in der Poliklinik Schmalkalden. Für meine Hausbesuche und Vertretungen der Ärzte auf dem Lande hatte ich ein Auto zur Verfügung. Ich hatte Lies schon in Brotterode besucht und ihr Elend gesehen. Ihre Tochter versorgte sie und sie selbst saß als elendes Häuflein in der Küche. Die Tochter mag damals etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Fräulein Kilb, die meiner Tochter Charlotte sozusagen als Ersatzoma diente, wollte so gerne mal Lies besuchen, und wir beschlossen, mit dem Dienstauto nach Brotterode zu fahren. Frau Kilb und ich stiegen vor Liesens Wohnung aus und fanden die Wohnung verschlossen. Die Nachbarn erzählten uns, dass Lies am Vortag beerdigt worden sei. Die Tochter von Liesens verstorbenem Mann hat sich um die Beerdigung gekümmert und die Tochter von Lies mit nach Nürnberg genommen. Das war für damalige Verhältnisse eine tolle Leistung. Wie sie die Tochter von Lies mit rausbekommen hat aus der DDR, weiß ich nicht. Du und auch Mama und Papa waren da längst in Kassel.

Tata, das ist Fräulein Kilb, und ich waren bei unserem vergeblichen Besuch in Brotterode regelrecht geschockt. Mit dem Nichtmehrvorhandensein von Lies hatten wir absolut nicht gerechnet.

Schmalkalden, 17. Februar 76