Herr Hocke

Herr Hocke, Bekannter meiner Eltern

Gernot und ich besuchen immer mal Herrn Hocke und seine Lebensgefährtin, Frau Stichler. Als Herrn Hockes Frau Ende des Krieges starb, 1945, taten sich nach einer Weile die beiden zusammen. Sie bekamen beide recht gute Pensionen und daher heirateten sie nicht. Sie lebten nun schon 37 Jahre zusammen. Herr Hocke ist 96 Jahre alt, Frau Stichler 85. Er war zuletzt in Magdeburg und Halberstadt Direktor der Commerzbank. Aufgewachsen ist er mit seiner Familie in Wabern, wo sein Vater Direktor der dortigen Zuckerfabrik war. Der Bruder von Herrn Conrad Hocke, Richard Hocke, ging mit meinem Vater hier in Kassel auf das Friedrichsgymnasium. Sie kannten sich gut und unternahmen auch zusammen sehr viel in ihrer Freizeit. Herr C. Hocke ging auf eine Mittelschule und wohnte bei einer Frau am Ständeplatz, dicht neben Familie Fenner (Friedrich-Ebert-Str. 2). Daher kannte er auch die ganzen Fenner-Kinder recht gut und ebenso ihre Mutter, meine Großmutter Selma, geborene Ranke. Die Großmutter wäre eine große, flotte und fröhliche Frau gewesen mit lauter Stimme und recht fortschrittlich eingestellt. Sie hätte ihre Kinder stets mit lauten Rufen über den ganzen Ständeplatz zusammengeholt, wenn gegessen wurde. Außerdem lief sie ohne Hut zum Nachbarn oder schnell ins nächste Geschäft. Das wäre damals eigentlich vollkommen unvorstellbar gewesen, ohne Hut auch nur einen Schritt aus dem Haus zu tun, und alle Leute hätten der Oma aus diesem Grund auch nachgeguckt.

Ich kenne meine Oma nur sehr alt. Mein Vater war ihr Jüngster und ich wiederum bin die Jüngste von meinen Eltern. Mein Vater fuhr alle paar Jahre für wenige Tage mit uns Kindern – Erna, Karl und mir (Gottfried war ja krank, weswegen meine Mutter so gut wie nie wegkonnte, und mein Bruder Rudi schon zu groß (zwölf Jahre älter als ich) – zu ihr nach Marburg. Wir stiegen dann recht früh in Schmalkalden in den Zug und zuckelten über Eisenach (Bebra umsteigen) bis Kassel. Hier machten wir Station, um bis zum Herkules raufzulaufen und die Museen anzugucken. Bei Woolworth bekamen wir auch stets größere Pappköfferchen gekauft für ein paar Pfennig, weil wir ja inzwischen größer geworden waren. Wir liefen weit hinaus bis Wilhelmstal oder spielten im Park Wilhelmshöhe in den Kneippbecken. Wie immer faltete mein Vater seine Zeitung aus und ließ uns rumtoben. Erst abends kamen wir bei Oma in Marburg an und verschwanden recht bald total müde ins Bett. So hatte es mein Vater geplant. Auch in Marburg machte Papa mit uns riesige Wanderungen oder er ging mit uns ins Schwimmbad. Mich faszinierte, dass die Oma schon damals ein Telefon besaß und ein Radio. Mein Vater war in solchen Dingen nicht so fortschrittlich eingestellt; es interessierte ihn auch nicht. Als dann Oma Ende Zweiter Weltkrieg starb, bekamen wir den alten Volksempfänger. Das war das einzige. was mich von allem geerbten Kram interessierte.

Ja also, Herr C. Hocke. Er erzählte mehrmals mit Schmunzeln, wie sich mein Vater nach dem Abitur mit Herrn Hockes Bruder aufmachte, zu Fuß und mit ganz wenig Geld, um die Kriegsschauplätze 1880/81 in Frankreich zu besichtigen. Sie müssen ungeheure Märsche zurückgelegt haben und bestellten sich unterwegs vorwiegend Rührei und ein Glas Milch oder kauften sich ein trockenes Brötchen. Als sie dann nach gut vierzehn Tagen wieder daheim ankamen, war die Mutter von Herrn Hocke entsetzt. Er hatte in dieser Zeit über fünfzehn Pfund abgenommen. In drei Wochen hatte er aber diese Pfunde, laut seinem Bruder, wieder drauf.

Meinem Vater haben aber diese Marathonmärsche nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Zeit seines Lebens machte er Gewaltmärsche bis kurz vor seinem Tod (fast 95 Jahre alt). Als wir Kinder waren, liefen wir immer sehr flott neben ihm her. Wir kannten es nicht anders. Nahmen wir mal einen Freund mit, ging der nie mehr mit. Die Wanderungen waren ihm viel zu anstrengend. Aus diesem Grund laufen mir auch heute fast alle Leute auf Sparziergängen viel zu langsam.

Von einem weiteren Spaziergang mit Papas Bruder Karl (er war älter und starb jung in Großalmerode, wo er Gerichtsassistent war, an einer Blinddarmentzündung) erzählte mein Vater auch stets schmunzelnd. Papa, Karl und Herr Hocke wanderten in Richtung Niederzwehren bei der Gaststätte Gude vorbei, die es heute noch gibt und wo sie immer mal Milch tranken. Damals lag diese Gaststätte weit außerhalb Kassels ganz einsam in der Landschaft. Diesmal aber waren sie schon weiter hinausgewandert. Sie hatten noch viel vor. Auf einmal blieb Karl stehen, machte kehrt und lief wieder in Richtung Kassel. Auf die Frage, wo er hinwolle, erklärte er den beiden, daß sie sich sehr eilen müssten. Ihm war gerade eingefallen, dass die Mutter morgens einen großen Napfkuchen gebacken hatte, und er wolle auf keinen Fall dieses Kaffeetrinken versäumen.

Herrn Hockes Vater machte jedes Wochenende in Wabern ebenfalls einen großen Ausflug. Um Wabern rum gibt es keinen Wald. Die Gegend ist ausgesprochen hässlich. Nicht für den alten Hocke. Er wanderte weit, um zu beobachten, wie die Zuckerrüben gedeihen. Er hatte ja die Zuckerrübenfabrik. Als Herr Hocke mir das in Kassel erzählte, dachte ich so an meinen Mann Ernst. Er ging mit uns, als er im „Verkauf hessische Braunkohle“ in der Karthäuser Straße beschäftigt war, sämtliche Braunkohlenwerke in der Umgegend so nach und nach zum Wochenende ab.

Der Richard Hocke fiel im Ersten Weltkrieg, mit fünf Pferden. So wird’s immer erzählt. Die Pferde waren unruhig, als die Soldaten irgendwo in Stellung lagen. Richard ging zu ihnen, um sie zu beruhigen. In diesem Moment schlug ganz in der Nähe eine Granate ein. Das wäre die einzige an diesem Tag gewesen. Aber Herr Hocke wurde durch Splitter tödlich getroffen.

Herr Hocke holte sich seine erste Frau aus Tambach-Dietharz, was ja nicht weit von Schmalkalden liegt. Daher kannte er auch gut Schmalkalden. Meinen Vater traf er aber erst wieder hier in Kassel, als mein Mann und ich die Eltern 1956 hierher in die Westzone holen konnten. In Schmalkalden bekam mein Vater 190 Mark Ostrente und hier bekam er erst sechzig Prozent seiner Pension und später die ganze. Er war ja immer hier beim Regierungspräsidenten als Regierungs-Baurat (preußisch) angestellt gewesen und wurde von Kassel aus besoldet. Um seine Pension zu bekommen, da musste ich, bevor die Eltern hierherkamen, nach Wiesbaden fahren, wo jetzt die Unterlagen liegen, um dann eben die Sache weiterzutreiben. Auch lief ich viele Male hier zum Regierungspräsidenten. Aber es klappte. Eine Sache, die damals gar nicht so selbstverständlich war.

Frau Stichler starb im Juni 1984. Herr Hocke, der mir stets erklärte, wie erleichtert er nun sei, es wäre schrecklich gewesen die vergangenen Jahre, sagte mir beschwörend (mein Mann war Weihnachten 1978 gestorben), ich solle mich ja nicht noch mal mit einem Mann zusammentun, es wäre alles nur Ärger. Er starb ein halbes Jahr drauf in der Seniorenresidenz an der Wilhelmshöher Allee mit 99 Jahren.