Karnickel

Karnickel

Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg bekamen mein Bruder und ich von einer Nachbarin, Frau Petter, ein Karnickel geschenkt. Die Eltern erlaubten es zwar, sagten aber, dass wir ganz allein für das Tier sorgen müssten. Wir setzten den Hasen also einfach in die große Schlossküche, worin die großen verschiedenen Kohlenvorräte, alten Kisten und so weiter aufbewahrt wurden. Wir hatten aber immer das Empfinden, als wäre unsere neue Errungenschaft nicht fröhlich genug, und so öffneten wir in der Schlossküchenausgangstür, genau hinter unserer Haustüre, eine zugenagelte Hühnerluke und lockten durch dieses das Hänschen, wie wir es nannten, heraus. Schwierig war’s schon, aber allmählich gewöhnte sich Hänschen an das Ausgangsloch und benutzte es eifrig. Es freundete sich bald mit der Ziege des Nachbarn an, die immer irgendwo um das Schloss herum auf einem Stück Wiese angepflockt stand, und die beiden spielten regelrecht zusammen oder lagen friedlich nebeneinander und guckten den vorbeigehenden Passanten nach. Näherte sich ein fremder Mensch, so konnte leider die Ziege nicht ausweichen und musste sich alle Knutscherei gefallen lassen, aber Hänschen war sofort um die nächste Ecke geflitzt. Wurde eine Sache zu brenzlig, sauste er durch sein kleines Hinterloch zurück in die Schlossküche, das zum Glück so klein war, dass kein Hund durchschlüpfen konnte. Katzen hatten Angst vor unserem Karnickel.

Hänschen entwickelte sich zu einem riesengroßen Prachtexemplar, und wenn wir Kinder nach ihm riefen, kamen er in Riesensätzen von irgendwoher angepirscht. Die Sparziergänger trauten oft ihren Augen nicht. Abends schlossen wir die Luke und Hänschen sauste nachts in der Schloßküche mit erheblichem Krach herum. Seine Toilette waren ausschließlich die Eierkohlen. Aus irgendeinem Grund hatte er sich diese dazu ausersehen.

Der Krieg kam, und ab sofort stiegen die Karnickel im Kurs und man musste wer weiß was dafür tauschen, um eins ergattern zu können. Da hatten wir Glück gehabt, und meine Mutter erkundigte sich, wo es in der Stadt eine Hasenzucht mit einem schönen großen Rammler gab. Sie erkundete einen Bäckermeister, der bereit war, unsere Häsin (wir hatten uns zeigen lassen, wie man das feststellt) decken zu lassen gegen zehn Eier. Da wir seit kurzem uns auch Hühner zugelegt hatten, konnten wir diesen Preis erfüllen, und meine Mutter packte mir Hänschen in eine große Kiepe und band ein weißes Tuch darüber. Ich hatte noch nie eine Kiepe aufgehabt, und da der Hase darin herumtobte, schritt ich wackelnd und nach vorne gebeugt schön hintenrum in Richtung Bäcker. Durch die Stadt schämte ich mich zu gehen. Da, auf einmal sah ich ein Fünfpfennigstück auf der Erde liegen und bückte mich danach. Die Kiepe bekam Übergewicht und ich flog mitsamt ihr vornüber in den Dreck. Das Tuch löste sich und hervor kam der um sein Leben kämpfende Hans. Ich schmiss mich der Länge lang auf ihn und hatte entsetzlich zu kämpfen, den Hasen festzuhalten und die Kiepe abzunehmen. Es glückte aber und total erledigt, schmutzig und verschrammt setzte ich meinen Weg fort. Der Bäcker nahm mich mit zu seinen Hasen und erklärte mir die Geschichte genau. Es hätte erst „geklappt“, wenn der Rammler matt von der Häsin fiele. Wir beide standen also und guckten dem sich weigernden Hänschen zu, bis es doch unterlag und der Rammler herunterfiel. Das war schnell gegangen, später hatten wir da oft länger zu stehen. Meine Mutter tauschte dann, als unsere „Hasenzucht“ mit dem Fortgang der Lebensmittelknappheit enorm zunahm, alle zwei Jahre einen fremden Rammler ein, dass die Sache für uns einfacher wurde.

Unser Hänschen hatte bis zum Tag der Geburt seiner Jungen dann noch viel auszustehen. Zweimal hintereinander wurde es von einem Hund gejagt. Das erste Mal konnte es noch flüchten, aber das zweite Mal konnte der Hund zubeißen und Hänschen war so verängstigt, dass es nicht nach Hause zurückkehrte. Es hatte noch mal geschneit und wir sahen, dass es in den benachbarten Gärten herumlief. Die gesamte Nachbarschaft begab sich also auf Jagd und nach drei Tagen konnte der Hase wieder von einem jungen Mann eingefangen werden. Ein großes Stück Fell fehlte Hänschen auf dem Rücken, aber mit der Zeit wuchs es wieder vollkommen zu. Ab da durfte Hänschen nicht mehr heraus, zumal die Ziege auch geschlachtet wurde.

Der große Tag des Werfens kam heran, aber soviel wir auch suchten, es waren keine Jungen zu finden und Hans hütete sich, sein Versteck zu verraten. Meine Mutter fand nach ein paar Tagen das Nest. Da standen zwei große Umzugskisten übereinander. Die obere etwas schräg, dass also ein schmaler Ritz frei wurde zur unteren. Hierhinein hatte sich Hänschen unendliche Male mit einem Satz gezwängt und sein Nest gebaut. Alte trockene Holzwolle lag noch in der Kiste und die Mutter polsterte das Nest mit Haaren seines Fells weich aus und hatte die Jungen auch schön damit zugedeckt. Nur durch das leise Anheben der Wolle konnten wir erkennen, dass Leben darunter lag. Wir Kinder hatten vorher zwar zugeguckt, wie die werdende Mutter sich das Fellhaar ausrupfte und in ganzen Bündeln im Maul hielt, aber nie tat es uns den Gefallen, zu zeigen, wo der Unterschlupf war.

Wir verrückten die Kiste etwas, dass der Ritz größer wurde und Hänschen es nicht mehr so schwer hatte, hineinzuspringen. Drei Junge hatte es geworfen, und zwar drei silbergrauschwarze, keins hatte das graue Fell der Mutter. Da es nur drei Junge waren, wuchsen sie schnell heran und wurden genau solche Prachtriesen wie die Mutter, die seit der Geburt angefangen hatte, Milch zu trinken, die meine Mutter ihr zum Versuch mal hingestellt hatte. Am Anfang hob die Mutter die drei Jungen immer in die Kiste rein und raus, und es war erstaunlich, zuzugucken, mit welcher Eleganz sie das machte, ohne das Junge anzustoßen, denn die Kiste war immerhin sechzig bis siebzig Zentimeter hoch. Nicht lange, und die drei Jungen gingen nicht mehr in die Kiste zurück. Ab jetzt sausten die vier in der Schlossküche mit erheblichem Krach herum und besonders nachts machten sie großes Spektakel. Sie schleppten die Gießkannen (damals aus Blech und Zinn) herum, krochen durch alte Ofenrohre und gruben tiefe Löcher in den Natursteinfußboden. Außerdem hatte die Mutter ihnen nicht ihre Sauberkeit beibringen können und jede Woche mussten wir also nun die Schlossküche kehren.

Mit dem Heranwachsen der Hasen bekamen wir andere Sorgen, nämlich die der Inzucht. Das wollten wir verhindern, aber Hasen brauchten wir, und nun nicht mehr zum Vergnügen, sondern zum Essen. So errichteten wir mit alten Türen und Brettern ein paar Gehege, etwa zweimal zwei Meter groß, und trennten die Tiere. Das Muttertier wurde zum Sommerende nochmals in der Kiepe weggebracht und wir harrten der Dinge. Die Kiste wurde in das Gehege der Mutter gestellt und nach der abgelaufenen Frist bekam sie ihre Jungen. Fast am gleichen Tag bekam aber eins ihrer Kinder in einer weniger komfortablen Ecke auch Junge, und nach längerer Beobachtung sahen wir, dass die Hasen sämtlich mit einem Sprung über die Bretter, die alle mindestens in der Höhe einer umgedrehten Türe waren, sich gegenseitig besuchten. Nie aber sahen wir zwei zusammen. Ein schlaues Volk. Da war die Inzucht also doch geschehen.

Mit großem Eifer machten wir uns also daran, Hasenställe zu bauen aus den Umzugskisten. Wir suchten die allergrößten heraus. Sie waren damals ja noch nicht so genormt wie heute, und Leute, die oft umzogen, wie meine Eltern, hatten halt ihre eigenen Kisten. Schwer war’s, den Draht zu beschaffen, denn es war ja schon Krieg. Mein Bruder besorgte noch Scharniere und machte sich ans Bauen unter meiner HilfeSo war’s bei fast allen Sachen. Er führte aus und ich half und wurde oft ausgeschimpft, weil ich es nicht richtig machte. Ab da hatten die Hasen also ihre eigenen Ställe, und nur selten kam es nun vor, dass einer durch eine sich öffnende Tür ausreißen konnte. Im Laufe der Jahre wurden die Ställe aber immer kleiner, denn die Hasenzahl nahm zu und die Kistenzahl ab. Immerhin ließen wir ihnen aber noch so viel Platz, dass sie einen Hupf im Stall wagen konnten, ohne mit dem Kopf anzuecken.

Wir hatten unsere liebe Not, die Viecher zu füttern. Solange es noch Brot genug gab, fütterten wir sie damit nebenbei. Wir erbettelten uns bei sämtlichen Mühlen in der Umgebung Kleie. Ganz zum Kriegsschluss, als wir noch nicht mal mehr das bekamen, buk meine Mutter, falls es einmal klappte, davon lieber Brötchen. An der Nordseite des Schlosses, wieder zwischen den zwei hohen Mauern, aber nun weit auseinander, hatten wir den Obstgarten. Es war ein sehr steil abfallender Abhang, unten durch die hohe Mauer begrenzt, die aber weiter runter verlief und nicht in die Höhe, dass wir Kinder also oft auf der Mauer saßen, von unserem Gartenboden etwa anderthalb Meter hoch, und herunterguckten auf die spielenden Kinder im Liebaugsgarten. Irgendein Obstliebhaber hatte an diesem Abhang etwa hundert Bäume gesetzt, alles ganz erstklassige Sorten. Vorwiegend Äpfel, dann Zwetschen, Birnen und Kirschen. Auch Mirabellen gab’s. Es muss derselbe Mann gewesen sein, der in unserem mit Buchsbaumhecken geteilten südlichen richtigen Spiel- und Gemüsegarten sieben Büsche verschiedener Haselnussarten gepflanzt hatte.

Bisher hatten meine Eltern das Gras im Obstgarten immer von einem Bauern mähen lassen, aber nun machte sich meine Mutter daran, das Mähen zu lernen, und meine ältere Schwester half ihr dabei. Es war eine furchtbare Qual, das zu lernen, wenn man noch nie mit der Landwirtschaft zu tun gehabt hatte, und dazu der sehr steile Hang, wo man kaum stehen konnte. Sie schafften es aber jedes Jahr zweimal und waren dann immer für Tage total erledigt. Wir kleineren mussten dann helfen, das Heu zu wenden und in großen Sacktüchern auf den Heuboden in unserer Wohnung im mittleren Stockwerk zu schleppen. Der Garten war so ertragreich, dass das Heu stets für die vielen Hasen, meist waren es dreißig bis vierzig, sehr gut reichte und auch als Spreu verwandt wurde in Ermanglung von Stroh.

Das Hasenhalten war zur Last geworden, aber das Fleisch hielt uns Kinder rund und gesund. Nachdem mein Vater zugesehen hatte, wie ein Nachbar uns einen Hasen schlachtete und das arme Tier dabei jämmerlich quietschte, ließ er sich von einem Könner das Schlachten zeigen und tat es sehr widerstrebend selbst. Ich lauerte vor der Waschküche, bis mein Vater rief: „Kannst reinkommen.“ Dann stürzte ich hinein und fing an, mit einem Holzlöffel das in ein Töpfchen auslaufende Blut zu rühren, dass es nicht gerinnt. Meine Mutter machte davon und vielen anderen Dingen Blutwurst. Als es wieder aufwärts ging mit den Lebensmitteln, bekamen es die Hühner. Je zwei Haken wurden also über einer Tür eingeschraubt, die Hasen daran gehängt und mein Vater oder ich machten uns daran, das Tier abzuziehen und auszunehmen. Das Fell durfte nicht verletzt werden, dann konnten wir es nicht mehr verkaufen.

Die ersten Felle konnten wir uns noch für uns selbst gerben lassen für ganz wenig Geld – unserer Mädchenmäntel damit einfassen und einen Muff davon machen, den ich noch aufhebe. Dann durfte man nicht mehr selbst gerben lassen, weil die Felle gebraucht wurden. Wir hatten immer noch die große Karnickelrasse und bekamen stets Höchstpreise für unsere Felle, das heißt, nicht sechzig Pfennig, sondern neunzig oder gar eine Mark. Mit der Zeit wurden mein Vater und ich ganz geschickt im Hasenzurechtmachen, aber schlachten konnte ich keins. Nach dem Krieg, als es uns verpflegungsmäßig wieder besser ging und wir Kinder schon arbeiteten, schaffte meine Mutter die Hasen ab und behielt nur noch die Hühner.