Selbstmord eines Nazis

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Nicht weit von uns lebte ein Mann, der bei Hitlers Machtübernahme 1933 schon in der Partei, der NSDAP war. Er hatte allerlei Pösterchen in der Stadt und war 1939 bei Kriegsbeginn unabkömmlich für den Fronteinsatz. Nach sechs Jahren, in den letzten Kriegstagen, übernahm er das Kommando für den Volkssturm. Das waren nur noch Greise und Kinder, welche die Heimat zu verteidigen hatten. Mit nichts. Ein paar Panzerfäuste hatten sie, weil die in unserer Stadt hergestellt wurden, aber konnten sie natürlich nicht bedienen.

Als die Amerikaner näher rückten in Richtung Werra, etwa sieben Kilometer entfernt von Schmalkalden, uns also schon ganz mulmig wurde, bekam der Volkssturm eines Abends den Befehl, dem Feind in Richtung Werra entgegenzurücken. Manche machten mit aus Enthusiasmus, manche aus Angst, sonst als Verräter erschossen zu werden. Der Führer war oben erwähnter Mann. Kämpfe hat’s sicher nicht gegeben, aber man wusste es ja vorher nicht. Einer machte sich aber in derselben Nacht schon wieder heimlich auf den Rückweg, voller Angst, und versteckte sich: der tapfere, vorher immer so große Worte schwingende Anführer. Er muss die nächsten Tage furchtbare Ängste ausgestanden haben, denn als die Amerikaner auch bei uns eingerückt waren (ein Vierteljahr Amerikaner, denn Russen, und so blieb‘s. Die Russen bekamen Thüringen, dafür die Amerikaner ein Teilstück Berlins), versuchte der Mann seinem Leben ein Ende zu machen. Na ja, und dies ausgerechnet in unserem Garten.

Am Ende unseres Blumengartens in Richtung Schlossberg, stand die kleine Pfalz. Man ging etwa 15 Treppen hoch auf eine kleine Plattform, etwa vier mal vier Meter mit Mauer drumrum, wo ganz früher eine Kapelle stand mit Blasmusik oder so, um für die lustwandelnden Schlossleute und Gäste aufzuspielen. Denn ein Stück tiefer, an der Außenwand unseres Gartens, befindet sich die große Pfalz, ein hübscher gepflasterter Platz, recht groß. Am Rand der Kleinen Pfalz stehen drei uralte Akazien, zum Teil abgestorben, aber immer wieder blühend und in den Stämmen lauter Spechtlöcher. Unter dem großen Platz liegt der „unterirdische Gang“. Am Gartenende, neben der kleinen Pfalz, wo wir unsere Himbeeren stehen hatten, war der Eingang für den Gang. Hufeisenförmig, mit einer alten kaputten Tür, viele angeschlagene Treppen runter. In dem folgenden Gang hingen im Winter Hunderte von Fledermäusen, die im Sommer am Gebälk des Schlossbodens hingen.

Meine Schwester Erna marschierte fröhlich in unseren Garten, um sich einen Blumenstrauß zu pflücken. Sie hörte ein Stöhnen und fand den Mann in unseren schönen Himbeeren liegend, blutend. Er hatte das dicke Seil, das unsere Himbeeren zusammenhielt, abgemacht, es ein paar Treppen hoch über einen überhängenden Akazienast geworfen und sich eine Schlinge um den Hals geknüpft und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Das klappte nicht. Der Puls wich zurück. Deswegen gelingen viele solcher Versuche gar nicht: Man muss von hinten nach vorne schneiden. Der Mann hüpfte alsdann runter, um sich vorsichtshalber noch zu erhängen. Der Akazienast hielt, aber das morsche Seil nicht. So fiel er genau in die prachtvollen Himbeeren. Meine Schwester raste zurück und rief unsere Eltern und mich und meine Freundin Hannelore, die gerade bei uns war. Erna lief als erste zurück mit allerlei Bändern oder Tüchern, das weiß ich nicht mehr, und band dem Mann die Arme ab. Alsdann holten wir unser sehr winziges Lattenleiterwägelchen und legten Kissen rein und darauf den stöhnenden Mann. Kopf prima mit einem Kissen gestützt. Aber die Beine baumelten hinten raus. So rumpelten wir den Schlossberg runter hinein in die Stadt, denn das Krankenhaus liegt am anderen Stadtende. Vorne zogen meine Schwester und mein Vater, hinten, gebückt, liefen Hannelore und ich und hielten dem Mann die Beine hoch. Es war gerade wieder, wie so oft, „Straßensperre“. Also kein Bewohner draußen außer eben überall die amerikanischen Wachposten. Die guckten uns erstaunt nach, sagten aber nichts.

Im Krankenhaus wurde der Mann gleich versorgt, mein Vater musste mit ins Büro, eben alles erzählen und unterschreiben. Währenddessen standen wir drei jungen Mädchen mit den Amerikanern zusammen und unterhielten uns mit ihnen mit unserem prachtvollen Schulenglisch. Es klappte aber sehr gut. Als wir dann gingen mit unserem Wägelchen, gab mir der eine Soldat plötzlich eine kleine Tafel Schokolade und eine Packung Kaugummis. Die kannten wir ja überhaupt nicht. Zufrieden liefen wir heim. Dort wurden beide süßen Raritäten ganz genau gleich aufgeteilt, auch mit meiner Mutter. Jedem schmeckte sein Stückchen Schokolade, ein lang vermisster Genuss, und jeder probierte das Kaugummi. Na ja, erfrischend war es und eben ganz was Neues. So hatten wir doch unseren Dank, denn meine Schwester und wir als Helfer hörten kein Dankeschön von des Mannes Familie. Als wir den Mann fanden, war Erna nach nebenan zu der Familie gelaufen. Hysterisch heulten die und schrien: „Lasst ihn sterben!“ Keiner half. Unglaublich!

Vellmar, 12. März 95