Flucht in den Westen über Tempelhof

Flucht oder Ausreise oder Umzug von Schmalkalden nach Kassel 1952

Kurz nach dem Krieg hatte ich in Erfurt erfolgreich meine Schauspielprüfung gemacht. Ich konnte aber überhaupt nicht dorthin ziehen, denn die Schauspielschule kostete Geld. Das hatten wir alle nicht, außer den Schiebern rüber und nüber. Dann war überhaupt nicht an ein Zimmer mieten zu denken. Überall waren sie voll von Flüchtlingen und Evakuierten. Flüchtlinge, das sind die Vertriebenen aus dem Osten; Evakuierte, die Menschen, die in den völlig zerbomten Weststädten keine Bleibe mehr hatten und halt in die Wohnungen derer gesetzt wurden, die noch heil waren. So spielte ich halt mit den Junglehren, die am Schloßberg in einem Heim wohnten, wozu man aber in der FDJ sein mußte (Freie Deutsche Jugend). Zehn Mann gründeten also in Schmalkalden die FDJ, wir bekamen allerlei Anweisungen von Erfurt und sollten ein Zimmer für ein Büro suchen. Ich sollte es leiten. Naja, das wäre dann so ein Werdegang wie der meiner Freundin Hannelore geworden, die ja recht gut all die Jahre lebte. Ich habe darüber nichts Schriftliches mehr, nur noch ein Foto, denn wir wurden alsbald nach Jena, Erfurt, Meißen in Schulungslager geschickt. Eine prima Sache, mußte doch mein Büro mir dafür frei geben. Sie taten es nicht gerne, was ja verständlich war. Dann lernte ich Euren Vater kennen. Ein neuer Lebensabschnitt begann und es machte mir wenig aus, daß ich nicht mehr spielen und aus der FDJ austreten sollte. 1947 lernte ich ihn kennen, 1949 heirateten wir, 1950 kam Wieland auf die Welt. Erst wohnten wir bei meinen Eltern auf dem Schloß, dann besorgte uns mein Vater eine Wohnung in der Stadt im Bankhaus Dadelsen. Die wunderschönen großen Wohnungen wurden geteilt in zwei kleinere Wohnungen, Papa ließ sie herrichten, weil das Bankhaus staatlich war und er diese Gebäude verwaltete u.a., und wir wohnten sehr hübsch da, bis Ernst nach Kassel wollte. Seine Beweggründe teilten wir alle, denn er sollte auf eine Parteischule zu einem Lehrgang fahren. Seine Eltern hatten ihn die Einreise erlaubnis nach Kassel geschickt. Erst ging es nicht, weil ich eine Totgeburt im 8. Monat hatte und hinterher den ganzen Körper voller Furunkel hatte durch das Leichengift im Körper. Als es mir besser ging kündigte Ernst. Er hätte in Mecklenburg eine bessere Anstellung. Wir fuhren nach Berlin, zur Schwester Alma von meiner Mutter. Sie wohnte mit ihrem Mann in der Heidelbergerstraße 29. Ihre Seite war „Westzone“, die andere Seite „Ostzone“. Gerade von dieser Straße sahen wir dann später im Fernseher, wie die Leute an Seilen und durch Tunnel verzweifelt versuchten, auf die Westseite zu gelangen. Die Mauer wurde ja erst sehr viel später gebaut, wozu der ganze Straßenzug, wie überall, abgerissen wurde, daß die Westseite plötzlich herrliche Sonne hatte.

Dorthin hatten Ernsts Eltern auch Ernsts Einreisegenehmigung geschickt, wie später auch unsere und was man eben so alles nicht in die Ostzone (damals noch nicht DDR) schreiben konnte. Tante Alma hatte mit ihrem Mann Paul Jentsch im Hinterhaus im ersten Stock ein Zimmer (Wohn- und Schlafzimmer) und eine dunkle, dreieckige Küche mit Plumpsklo daneben. Winzig klein alles und sie nahm uns im Laufe der Zeit alle auf. 

Allerdings war sie auch Mamas einzige Schwester, die früher sehr oft mit ihrem Mann bei uns in Schmalkalden war. Er war Arbeiter und oft arbeitslos, sie hatten zwei Söhne. Einer fiel im Zweiten Weltkrieg, der Zweite wurde vermisst für ewig. Es war halt in Schmalkalden ihr Urlaub. Ernst und ich fuhren zweimal nachts nach Berlin, um all seine Sachen zur Tante zu bringen. Nachdem er alle Formalitäten erledigt hatte, fuhr er ohne mich ein drittes Mal zur Tante und flog von Berlin nach Frankfurt. Im August 1952. Ich wurde daraufhin beim Landratsamt Schmalkalden entlassen, bekam aber in der „Deutschen Spedition“ eine neue Stelle, wo ich vorwiegend internationale Frachtbriefe ausfüllen mußte und die Begleitpapiere, weil diese Spedition vorwiegend Luftgewehre nach Übersee schickte. Dann bekam ich Bescheid, daß in Berlin Wielands und meine Einreise läge. Dem Chef von der Spedition sagte ich es, weil er ebenfalls gerade seinen Umzug vorbereitete. Mit meinem Vater fuhr ich zwei, drei Mal nachts nach Berlin. Vollgepackt mit meinem wichtigsten Hausrat. Wir fuhren nachts, nahmen für den nächsten Tag Urlaub, wo wir bei Tante Alma alles in Pakete packten und zu Ernsts Eltern, aber vorwiegend zu Charlotte Teubner schickten. Vorne in Tante Almas Haus lag ein Seifengeschäft, und weil sie die Leute gut kannte, bekam sie auch von denen die sehr raren Kartons. Die andere Nacht fuhren Papa und ich heim, kamen um 6 Uhr an und erschienen um 8 Uhr im Büro. In Berlin selbst leisteten wir beide uns eine Bockwurst und jeder eine Tafel Block- (Koch) Schokolade. Wir liefen neugierig herum und freuten uns unseres Lebens. Ab dem zweiten Mal, ich war dann auch noch alleine dort, hatte ich einen schmalen Sack genäht, ähnlich einem langen Strumpf und um den Bauch gebunden. Am Bahnhof Zoo kaufte ich bei den Schwarzhändlern Rohkaffee. Gebrannten ging nicht, weil der roch. Das alle war eine Sache, ich kaufte auch anderes rares Zeugs, was mein Vater sehr gerne mitmachte. Seine Augen strahlten dann voller Abenteuerlust. Den Rohkaffee konnten wir sehr teuer in Schmalkalden verkaufen, weil es perdu keinen gab und die Leute wie verrückt hinterher waren. Mama hatte noch von ihrer Schwiegermutter die alte Kaffeeröstmaschine. Am Herd wurden die Ringe abgenommen und die Pfanne mit einer Kurbel dran reingehängt. Dann mußte man fleißig drehen, daß der Kaffee gleichmäßig geröstet wurde. Papa und ich nahmen auch Wielands Puppenwagen mit nach Berlin und schickten ihn, zum Entsetzen meiner Schwiegermutter, nach Kassel. Es war mein alter Puppenwagen, wo Wieland dran laufen lernte. Der Puppenwagen war hellblau, mit riesigen Rädern (damals völlig unmodern), das Verdeck fehlte ganz, und er war zerkratzt. Also ein alter Schinken, aber es war Wielands liebstes Spielzeug. Während Papa und ich mit Gepäck und Puppenwagen durch die Gänge zur U-Bahn keuchten, hielten uns, wirklich, drei Leute an, die den Puppenwagen unbedingt für wer weiß was kaufen wollten. Das war später meines Vaters erstaunlichste Geschichte.

Die Genehmigung zum Wohnungswechsel von Schmalkalden aus (Zuzugsgenehmigung) für Wieland und mich aus der russischen Zone nach Kassel habe ich noch und einen provisorischen Pass. Anfang Dezember ging es also für uns beide los. Meine Eltern fuhren mit nach Berlin. Mama hatte den Wieland im Sportwagen. Er saß ganz hoch, weil unter ihn wertvolles Zeugs und zwei Federbetten gepresst waren. Als wir an der Grenze, etwa hu8ndert Meter um die Ecke von der Heidelberger Straße angehalten wurden und zur Überprüfung ins Wachhäuschen mußten, schob meine Mutter mit unbeteiligter Miene den Wieland durch die Schranke. Papa und ich wurden überprüft. Wir hatten aber fast nur noch Anziehzeugs dabei und ein geschlachtetes Kaninchen und Gemüse, Obst für die Tante, was wir immer mitschleppten, weil ja die Tante auch nichts hatte. Wir wußten auf der Ostseite der Heidelberger Straße von einer Familie, die von der Tante, gegen Geschenke, informiert war, daß wir ihre Verwandten seien. Den Namen gaben wir beide an und durften weiterziehen. Es war furchtbar eng bei der armen Tante. Ich fuhr dann alleine los, mich beim Präsidium in Berlin abzumelden. Sie nahmen mir den Ausweis ab und am nächsten Morgen durfte ich mir einen Ersatzausweis holen. Dann wollten wir gleich fliegen. Ich holte aber auch noch eine elektrische Nähmaschine bei einem Ostkaufhaus, weil die da so billig waren. Den Auftrag hatte ich von meiner Schwiegermutter in Kassel. Ich packte den Kasten mit der Nähmaschine in mitgebrachtes Packpapier und fuhr über Bahnhof Zoo in den Westteil der Stadt zur Tante. Mich wundert heute noch, wie ich kreuz und quer alleine durch die Stadt fand. Auch in der U-Bahn hatte ich keine Ahnung, wann der Westteil anfing. Auf einmal standen Zollmänner vor mit. Was ich da im Papier hätte. Ich wurde fast ohnmächtig vor Schreck, zeigte die Maschine und erzählte die ganze Geschichte, nachdem sie mir gezeigt und versichert hatten, daß sie wirklich Westzöllner seien und wir halt schon auf der Westseite waren. Sie glaubten mir aber nicht, weil ich ja keine Papiere hatte. Na, sagten sie, wenn alles stimmt, dann gehen Sie in Kassel zum Präsidium, zeigen ihren neuen Westausweis und unsere Bescheinigung, dann kriegen sie die Maschine. Wupps, verschwanden sie mit meiner Maschine. Sie kostete über 400 Mark, ein Vermögen, aber eben Ostgeld. Wie der Umtausch-Kurs damals stand, weiß ich nicht mehr. Die Maschine bekam ich dann später tatsächlich wieder. Ich mußte sie beim Polizeipräsidium (damals im Schloß Wilhelmshöher) abholen. Wieder ganz alleine und zu Fuß. Es freuten sich Tante Anni und „Mutti“, die Schwiegermutter darüber, die sie abwechselnd benutzten, bis sie was abbrachen und mir das sehr vorwurfsvoll sagten. Ich bestellte das Teil bei der Hannelore, mit allen Daten, und sie führte auch alles gewissenhaft aus, daß das Teil tatsächlich nach gut einem halben Jahr ankam. Ich ließ es durch einen bekannten Mechaniker einbauen und gleich drauf zogen wir „An die Karlsaue“. So hundertprozentig war die Nähmaschine aber nie wieder, und ich mußte immer zwischendurch dran herumfummeln, damit sie wieder richtig nähte. Irgend ein bekannter junger Mann nahm sie dann freudig mit; ich weiß aber nicht mehr, wer das war. Meine Mutter hatte mir eine andere Maschine geschenkt. Ja, das war also die Nähmaschine.

In Berlin auf dem Präsidium wurde ich nicht verhört oder mußte erzählen, weil wir uns ja nicht als Flüchtlinge gemeldet hatten, die immer erst in ein Lager kamen, was dann lange dauerte. Besser war, gleich zu verdienen, denn damals gab es Arbeit genug. Also, als ich am nächsten Tag den Ersatzausweis geholt hatte, fuhren meine Eltern, Wieland und ich erwartungsvoll zum Flugplatz Tempelhof. Ob ich die Flugkarte schon geholt hatte oder wie das war, weiß ich nicht. Jedenfalls kaufte ich sie selbst, wie Ernst damals auch (Flüchtlinge brauchten das nicht, mußten aber ewig warten). Ernst hatte das Geld bei seinen Eltern geliehen, was wir zuallererst schnell zurückzahlten. Es flog aber am 5. Dezember 1952 kein Flugzeug. Wegen Nebel. Also traurig wieder zurück zur entsetzten Tante und am nächsten Tag wieder derselbe Weg. Nee, alles zu und vorläufig auch nichts. Nur nach Hamburg. Ich buchte irgendwie vor und telegrafierte Ernst um Geld, das auch noch abends kam. Der dritte Anlauf gelang dann. Die Eltern fuhren erleichtert heim und Wieland und ich flogen (natürlich das 1. Mal) nach Hamburg. Wieland lernte da einen süßen kleinen schwarzen Jungen in seinem Alter kennen und die beiden spielten herrlich zusammen, obwohl sie ja kein Wort gegenseitig verstanden. In Hamburg fuhren wir zum Bahnhof, alles dauerte ewig, und dann saßen wir im Zug nach Kassel. Wieland bekam, wie üblich, allerlei Zeugs von den Leuten geschenkt, denn wir waren insgesamt 20 Stunden unterwegs. Gegen Morgen kamen wir dann in Kassel an, wo Ernst uns erwartete. Die Eltern von mir hatten noch ein Telegramm geschickt von der eventuellen Zeit. Ich meldete mich in Kassel sofort an, schon wegen der Nähmaschine. Ernst hatte auf Wechsel (der einzige in unserem Leben) 1 Tisch, Schrank und 4 Stühle gekauft. Den Schrank hattet ihr dann als Kleiderschrank später und die 4 Stühle habe ich noch und inzwischen zum zweiten Mal neu gepolstert. Solange wir bei Ernsts Eltern wohnten, teilten wir die Miete, Umlagen und Essensgeld.

Mein Bruder Karl wurde nach meiner Flucht bei der Volkspolizei schmachvoll entlassen, was ihm sehr recht war. Da er verschiedene Sanitätskurse hinter sich hatte, wurde er als „Jungarzt“ ausgebildet, was ihm viel Spaß machte.

Vellmar, 9. März 1995 

Warum erzählst Du diese blöde Geschichte denn?“, fragte mich meine Mutter, als sie 2001 zum ersten Mal meinen Film „The Making of Berlin“ sah. Darin schildere ich diese Flucht, aber nur eine einzige Szene, die bei ihr gar nicht vorkommt: Wie sie den Kinderwagen mit mir am Bahnhof Treptower Park in die S-Bahn schiebt, die Tür sich schließt, der Zug mit mir abfährt und sie alleine am Bahnsteig stehen bleibt. Jemand im Zug hatte das mitbekommen und an der ersten Haltestelle im Westen auf meine Mutter gewartet, die mit der nächsten Bahn nachkam und mich unversehrt vorfand. Das geschah nur wenige Monate, nachdem sie in Schmalkalden im Krankenhaus ihr zweites Kind verloren hatte. Ob sie diese Geschichte als unwichtig ansah oder ob ihr das peinlich war – ich habe es im Gespräch mit ihr nicht herausfinden können.