Selmas Leben in Dokumenten

Zeugnisse, Bescheinigungen, Arbeitsbücher: Es sind nur einzelne Dokumente von vielen, die Selma aufbewahrt hatte. Meine Auswahl ist natürlich subjektiv – wie alles hier.

Das Schuljahr 1933/1934. Die Nazis sind an die Macht gekommen. Selma, in der 6. Klasse, wird in die nächste Klasse versetzt, hat in Betragen gut, aber mit der Aufmerksamkeit hapert es etwas: genügend kommt immerhin noch vor ausreichend. Der Zeugnisvordruck hat noch kein Hakenkreuz. Unterschrieben hat ihr Vater, Ernst Fenner.

Wie entschieden wurde, warum Selma verschiedenen Handelsschulen besuchte – das hat sie mir erzählt, aber ich weiß es nicht mehr. März 1943, der Krieg kommt nach Deutschland zurück. Bisher waren die kleineren Ortschaften weitgehend verschont.

Herbst 1944. Das Zeugnis der Staatlichen Höheren Handelsschule in Weimar. Einerseits sieht es so aus, als sei Selma nicht gerade eine Streberin gewesen. Andererseits frage ich mich, warum die Lehrer zu der Zeit nicht einfach gute Noten geben. Möglicherweise glauben sie auch noch im Herbst 1944 an Volk, Vaterland und den Führer.

1947, der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Selma arbeitet, wie schon zuvor, beim Arbeitsamt in Schmalkalden. Sie ist die einzige, die aus der Nazi-Zeit übernommen wird, weil sie nicht in der NSDAP und auch nicht in irgendwelchen anderen Nazi-Organisationen war. Das ging! Man musste nicht.

Das Arbeitsbuch dient als Grundlage für die Rentenzahlung. Selma hat Glück gehabt. Sie gehörte zu den Jahrgängen, die noch eine einigermaßen erträgliche, auskömmlich Rente erhielten. Sie konnte davon ihre Miete und den Lebensunterhalt zahlen, nicht jedoch am Ende zehn Jahre lang das Pflegeheim. Meine Rente heute (1/2024) beträgt 620 Euro. Damit kann man nicht überleben. Ich habe immer gearbeitet, wenig verdient und konnte nicht gleiche für eine private Rente einzahlen, als ich mich 1997 mit der Buchhandlung selbständig gemacht habe. Eigentlich, dachte ich, dass es einen Aufstand der Alten gegen diese Hungerrenten geben würde, die doch in den 1970er Jahren kampferfahren waren. Irrtum.

Selma ist Ende 1952 mit mir im Westen angekommen und nimmt im Januar 1953 sofort ihren ersten Job an. Dafür gibt es monatlich 280 Deutsche Mark, aber sie muss am Samstag auch nur bis 13 Uhr arbeiten.

Was früher das Arbeitsbuch war, ist jetzt die Aufrechnungsbescheinigung. Nach ihrer Probezeit bei Diplomkaufmann Ludewig hatte sie zwei kurze Jobs, um dann wieder mehrere Jahre lang bei Ludewig zu arbeiten. Der war sehr nett zu ihr. Selma kam dann mit der Straßenbahn vom Königsplatz zum Bahnhof Niederzwehren, um mich vom Kindergarten abzuholen. Zurück in die Wohnung sind wir meist gelaufen und haben Sauerampfer, Brennnesseln, Kresse oder Löwenzahn für Salat gepflückt.

Ein Arbeitszeugnis von 1971 bis 1973. Dazwischen war Pause. Meine jüngeren Brüder sind 1957 und 1962 geboren. Hassia, das ist das Unternehmen, das nordhessische Braunkohle verkaufte, in dem mein Vater vom Buchhalter zum Geschäftsführer aufstieg. Braunkohle wollte dann niemand mehr, nicht mal für Kohlekraftwerke. Das inzwischen importierte Öl war deutlich billiger. Die Firma ging pleite– für meine Mutter nicht so schlimm, für meinen Vater eine Katastrophe. Er wurde arbeitslos und schämte sich.

1978, mein Vater stirbt. Meine Eltern waren ins Münsterland umgezogen, in ein Städtchen oder Dorf, also ein Ort mit Schützenfest, Saufen und Einwohnern, die nicht so weit herumgekommen waren. Meine Mutter hatte wieder einen großen Garten, holte ihre Eltern in die Wohnung und hatte, auch mit meinen beiden Brüdern, wirklich mehr als genug zu tun. Ganz laienhaft nehme ich an, dass mein Vater an Gram gestorben ist. Wie viele kam er körperlich und mental schwach aus dem Krieg. Er hatte ein Auge verloren.

Sehr, sehr, sehr nett von Selma, dass sie diese Liste gemacht hat: ihre Umzüge, das Leben in knappster Form. Ich freue mich, dass sie sich für Berlin entschieden hat und wir viele Jahre Spaß zusammen haben konnten.