Stadttrottel

Stadttrottel

Einer unserer Stadttrottel war „der Berthold“.

Zu Beginn kannte ich ihn nur, wie er den Schlossberg hinaufgeschlappt kam und im Glockenturm verschwand. Er beaufsichtigte als Uhrmacher die Schlossuhr und bekam jährlich von der Stadt oder dem Staat ein kleines Trinkgeld dafür. Die Kinder liefen ihm nach und schrien: „Berthold, was hast du heute gegessen?“ Dann blieb er stehen, seine Augen rollten wild und er sagte auf platt: „Junge Hunde und Kinder, wie ihr es seid!“, und latschte ruhig weiter. Er wurde nie böse, selbst wenn die Kinder ihm den Hut runterwarfen. Durch unsere Spiele im Turm lernten wir ihn allmählich richtig kennen. Im Grunde war er ein sensibler Mann, dem die Spöttereien der Kinder ungeheuer weh taten. Aber diese seine Antworten waren die einzige Gegenwehr, und er wusste wohl, dass er weit mehr verfolgt würde, wenn er böse würde.

Er stammte aus einer guten Bürgerfamilie des Städtchens. Sein Vater war auch Uhrmacher gewesen und sie wohnten mitten in der Stadt in einem eigenen kleinen Patrizierhaus. Die Kinder wurden gut erzogen und alle konnten Klavier spielen. Die Eltern müssen recht früh gestorben sein, und weder der Berthold Dellith noch seine zwei Schwestern, alles große, stattliche Leute, heirateten. Sie blieben in dem Haus wohnen und Berthold wurde Uhrmacher. Die eine Schwester blieb in Geschäft und Haushalt, die andere arbeitete längere Zeit irgendwo. Als wir sie kennenlernten, konnten sie ungefähr fünfundfünfzig bis sechzig Jahre alt sein. Es war nicht festzustellen, weil alle drei stets dunkel gekleidet waren.

Öfter begleiteten die Schwestern ihren Bruder den Berg hinauf und warteten vor dem Schlosstor auf ihn. So kamen wir mit den beiden Frauen ins Gespräch. Sie fragten uns nicht neugierig bis aufs Kleinste aus, sondern fragten, um ins Gespräch zu kommen. Berthold gesellte sich dazu, und das Verwunderlichste war, dass sie uns Kinder als Erwachsene behandelten. Was wir zur politischen Lage meinten, wollten sie wissen, und wie lange der Hitler wohl noch an der Macht wäre? Es entwickelte sich zwischen uns ein freundschaftliches Verhältnis und immer wechselten wir ein paar Worte und begleiteten den Berthold die Turmtreppe hinauf zum Uhrwerk. Dieses Uhrwerk hatte er tipptopp in Ordnung und immer ging die Uhr richtig. Er schmierte die großen Zahnräder und überprüfte, ob alles in Ordnung wäre. Wir durften die großen Gewichte des Läutwerkes hochziehen, und er erzählte uns, dass er auch Orgel spielen könne. Nie haben wir ihn aber gehört.

Anfang der dreißiger Jahre hörten wir immer mal Klavierklänge aus seinem Haus, aber bald hörte das auf. Ich habe nie einen Kunden in den Laden gehen sehen und die paar Schmuckstücke in dem kleinen verstaubten Schaufenster lagen ohne Glanz und ungeputzt herum. Kein Mensch warf einen Blick darauf. Und was war die Ursache? Die drei Geschwister verkamen aus irgendeinem Grund immer mehr. Sie stanken drei Meilen gegen den Wind, und wenn man die Haustüre öffnete, durch die man in den winzigen Laden kam, schlug dem Besucher ein penetranter Geruch von Dreck und nie gelüfteten Räumen entgegen. Im ersten Stock wohnte eine Familie zur Miete. Diese Familie ging im Dreck eins mit den drei Geschwistern. Trotzdem fühlten sich erhaben gegenüber den dreien. Sie benutzten auch nie die vordere Eingangstür, sondern liefen durch ein Gässchen durch die Hintertür in ihre Wohnung. Ungefähr Anfang des Zweiten Weltkrieges zog die Familie aus und trotz Wohnungsnot blieb die Wohnung leer.

Wenn der Berthold den Schlossberg heraufkam, stets gefolgt von einer Meute neckender Kinder, richteten wir „guten Bekannten“ immer ein nettes Wort an ihn, und er strahlte vor Dankbarkeit. Wir mussten aber einen Schritt Abstand halten, denn es wurde einem regelrecht schlecht von seiner unangenehmen Ausströmung. Stets hatte er einen schwarzen speckigen Anzug an und einen noch speckigeren schwarzen Hut. Er stützte sich schwer auf einen Spazierstock und im Winter vervollständigte ein schwarzer, glänzend gewordener und dreckiger Mantel seine Garderobe. Die hohen Schuhe besaßen kaum Schnürsenkel und waren so defekt, dass man den nackten Fuß durchsehen konnte.

Der Berthold versuchte mit jedem Erwachsenen ein Gespräch anzufangen. Meist gelang ihm dies nicht, bis auf einige wenige Leute, die leutselig und freundlich eine kurze Zeit stehen blieben. Und stets schimpfte er auf die Politik und Hitler, obwohl er mit Politik absolut nichts zu tun und auch keinen Schaden hatte.

Streng war’s verboten, auf das Hitlerregime zu schimpfen, und dererlei Leute verschwanden sang- und klanglos in den Konzentrationslagern. Nach einer langen Zeit erschienen sie todkrank wieder oder überhaupt nicht mehr. Zum Beispiel wurde ein Zimmermann, der uns vor Jahren unseren Hühnerpferch gebaut hatte, abgeholt, weil seine Haushälterin verriet, dass er ausländische Sender im Radio heimlich hörte. Er war eines der armen Opfer, die todkrank und schweigsam wiederkamen. Auch der Berthold verschwand eines Tages aufgrund seiner Schimpfereien.

Die Schwestern waren ohne ihren Bruder vollkommen hilflos und irrten umher wie ein paar verlorengegangene Kücken. In ihrer Ratlosigkeit erschienen sie eines Tages bei meinem Vater. Die Hauptsorge galt der Schlossuhr. Das Abholen des Bruders hatte sie so erledigt, dass sie fast überhaupt nicht mehr aus ihrem Haus gingen.

Mein Vater versprach Hilfe und schickte meinen Bruder und mich, als wir von der Schule heimkamen, runter zu den beiden Schwestern, um ihnen zu sagen, dass wir ab sofort die Uhr in unsere Obhut nehmen würden. Wir wussten ja Bescheid. Nun also betraten wir zum ersten Mal dieses stinkende Loch von Haus. Durch den engen Hausflur mit rohem Steinfußboden stiegen wir über zwei Stufen in den Laden hinein. Links sahen wir das Schaufenster, durch dessen vollkommen blindes Fenster etwas Licht in den langgezogenen Raum drang. Rechts stand eine etwa einen Meter lange Theke und darauf grüner Filz, zum besseren Begutachten der Schmuckstücke. Vor Dreck sah man aber kaum, dass der Filz ehemals grün gewesen war. Zwei Rohrstühle standen herum, und an der Wand hingen ein paar uralte geschnitzte und verschnörkelte Wanduhren, die durchweg genau gingen. Mehr Uhren oder sonstigen Schmuck gab es nicht. In der rechten hinteren dunklen Ecke standen noch ein brauner Schrank und das Klavier. Durch die danebenliegende Tür gelangte man nach hinten in die Wohnung.

Eine der Schwestern erschien, und nachdem wir unser Anliegen vorgebracht hatten, fing sie an zu weinen und dankte uns unausgesetzt. Aus dem hinteren Zimmer ertönte ebenfalls Weinen. Die zweite Schwester, so wurde uns gesagt, liege krank im Bett. Bei der nun sich entwickelnden Unterhaltung, und wieder ging’s um Politik, mischte sich die kranke Schwester aus dem Hinterzimmer mit der angelehnten Tür ständig ein und rief mit schriller Stimme: „Was haben sie gesagt, Paula?“ Und Paula schrie ebenso die Antwort zurück. Sie wollte uns unbedingt als Dankgeschenk aus ihrem ungefähr zehn kümmerliche Schmuckstücke zählenden Schaufenster einen dünnen silbernen Armreif und noch irgendetwas schenken, aber wir nahmen nichts an, obwohl wir sonst immer sehr für Geschenke empfänglich waren.

Ab diesem Tag versorgten wir also gewissenhaft das Uhrwerk im Glockenturm, bis wir in einem anderen Ort zur Schule gingen und da auch wohnten. Ab da übernahm ein junger Uhrmacher die Pflege.

Der Berthold tauchte nach einiger Zeit wieder auf. Auch er still und krank. Vor seiner Abholung hatte er nur seine verschiedenen Brüche zu verkraften, die er sich meist mit einer Hand zurückdrückte beim Dahinschleichen. Er versuchte zwar sofort, seine alte geliebte Tätigkeit wieder aufzunehmen, aber nach ein paar vergeblichen Versuchen, deren Zeuge wir mehrmals waren, den Schlossberg zu bewältigen, ließ er das sein und wartete ergeben in seinem Haus auf den Tod, der ihn auch recht bald erlöste. Kurz darauf starben nacheinander, fast unbemerkt, die beiden Schwestern.

Leer starrten nun die vorhanglosen Fenster des Häuschens auf den Platz des Städtchens. Viele Jahre lang, bis das Haus abgerissen wurde und ein neues modernes an derselben Stelle entstand (etwa 1983; Am Neumarkt in Schmalkalden). Mein ältester Sohn Wieland kannte den Berthold gerade noch und setzte seinen vor Dreck starrenden Hut oft auf. Berthold war glücklich.

Karl sagte, als „Jungarzt“ hatte er auch den Berthold und seine Schwestern zu betreuen. Sie seien regelrecht im Dreck verfault; nach jedem Besuch hätte er anschließend Flöhe an sich absuchen müssen.

Nachbemerkung von Karl Ferner; November 1999:

Als der Krieg vorbei war und ich wieder zu Hause, begann für mich die Zeit der Brautschau, das heißt, ich brauchte auch für die Mädchen kleine Geschenke, die ich bezahlen konnte, denn Geld hatte ich fast keins. So ging ich halt zu meinem alten Bekannten, dem Berthold. In seinem Laden trug ich ihm mein Anliegen vor und Berthold versprach, etwas zu rücken. Am nächsten Tag hatte er dann auch etwas für mich, eine silberne Brosche oder Anhänger.

14. Februar 76