Bomben auf Schmalkalden

Bomben (1939-1945)

„Hier zwischen den Bergen in unseren kleinen Städtchen sind wir vor Luftangriffen sicher“, sagten die Leute und beruhigten sich damit gegenseitig. Wozu dann aber überall die Flak? In unserem Städtchen und Umgebung wurde allerhand „Kriegswichtiges“ hergestellt. Vor dem Krieg war unser Kreis in der ganzen Welt bekannt mit seiner Kleineisenindustrie, und wer irgendetwas mit Schusterwerkzeug, sämtlichem Handwerkszeugs, Nägeln, Messern, Korkenziehern und sonstigen kleinen Haushaltsgegenständen aus Eisen zu tun hatte, wusste, dass hier nur erstklassige Ware hergestellt wurde. Jedes dritte Haus war eine kleine Fabrik für sich und die Menschen, tüchtig und fleißig, erfanden laufend Verbesserungen bei ihren Artikeln. Die „Flotte Lotte“ beispielsweise war eins dieser Haushaltsartikel. Ein stabiles Sieb mit einer Rührvorrichtung wurde den Hausfrauen in allen Ländern unentbehrlich, wenn sie Apfel- oder anders Mus durchrühren mussten. Damals gab’s ja noch keine elektrischen Geräte. Nach dem Krieg wurde der Erfindungsgeist der Einwohner sehr eingeschränkt. Ein Teil machte sich beizeiten nach dem Westen aus dem Staub und versucht sich irgendwo wieder mit viel Mühe zu etablieren, und die Daheimgebliebenen hatten mit dem ständigen und enormen Materialmangel zu kämpfen, bis sie nacheinander samt und sonders verstaatlicht wurden.

Im Krieg aber hatten besonders die größeren Werke Material für irgendwelche Flugzeuge oder Messinstrumente herzustellen. Zum Beispiel, das wusste die Bevölkerung aber erst im letzten Drittel des Krieges, wurden die so gefürchteten Panzerfäuste bei uns angefertigt.

Junge Leute finden ja auch bei den schrecklichsten Geschehnissen „Gott sei Dank“ noch das Interessante und Schöne heraus. So auch wir, wenn die endlosen Pulks Bomber oder Kampfflugzeuge der Engländer über unser Städtchen brummten. Dann stürzten wir die Wendeltreppe rauf auf den Dachboden und guckten zur Dachluke hinaus. Ein wunderschöner Anblick war es, wenn die vielen silbernen Flugzeuge in der Sonne blitzten. Eines Tages wurden wir auch Zeuge, als Bauern auf dem Feld beschossen wurden. Ein paar Flugzeuge drehten sich zur Seite und kamen weit heruntergeflogen, um in einem großen Bogen wieder hinaufzufliegen. Während dieses Manövers sahen wir langgezogene schnelle Blitze zur Erde zischen und hörten dann auch die kurzen Knalle. Entsetzt sahen wir uns an und wussten, was da geschieht.

Jedes Haus hatte einen Luftschutzkeller. Unserer war ganz besonders tief und stabil, denn ein hohes festes Gewölbe war die Decke. Wir hatten allerlei Koffer untergestellt, aber bald wurden sie wieder hochgeholt, denn der Keller war so feucht, dass es von den Wänden tropfte und in ganz kurzer Zeit die Koffer verschimmelten. Viele Bewohner des Städtchens sagten sich, dass sie auf dem nahegelegenen Berg wohl sicherer wären als in den Luftschutzkellern, die sich ja oft als Mausefallen entpuppten. Kam also Voralarm, liefen manche Leute schnell auf die Berge. Sie unterschätzten aber die Zielsicherheit der Bomber.

Eines Tages, meine Eltern waren gerade auf Dienstreise und meine Schwester und ich mit unserem kranken kleinen Bruder allein daheim, gab es wieder Voralarm, und noch ehe die Sirenen den Hauptalarm ertönen ließen, waren die Bomber schon über uns. Wir beide guckten neugierig zum Fenster hinaus. „Au, guck mal“, rief ich, „die werfen Leuchtbomben.“ Sie warfen sie in einem merkwürdigen Dreieck. Meine Schwester schrie plötzlich: „Das sind Tannenbäume!“ So wurden die Bombenabwurfmarkierungen genannt. In panischer Angst wollten wir vom Fenster weglaufen, aber schon hatten die Bomben eingeschlagen und warfen uns mit ihrer Druckwelle im vollen Bogen zurück ins Zimmer. Ganz benommen rappelten wir uns auf und zwischen weiteren Detonationen, die sämtliche Häuser erzittern und im Handumdrehen das Städtchen im Staub verschwinden ließen, schnappten wir unseren kranken Bruder und rannten hinunter in den Luftschutzkeller. Unten angekommen, endete das Getöse und eine unheimliche Stille war zu „hören“. Weil auch das Flugzeuggebrumm verschwunden war, schlichen wir wieder in die Wohnung zurück. Jedenfalls bei uns war nichts geschehen. Aber wir wussten, dass die Bomben nicht weit entfernt gefallen sein mussten. Jetzt war nicht nur die Luft vernebelt von den Detonationen der Bomben, sondern man roch und fühlte den Staub.

Unsere Eltern hatten gerade den Inselsberg erstiegen, als sie die Bombergeschwader anfliegen sahen, und vor Schreck gelähmt mussten sie beobachten, wie genau das Tal unseres Städtchens bombardiert wurde. In Todesangst eilten sie den weiten Weg zurück nach Hause und schlossen uns drei glücklich und erleichtert in die Arme. Als Dank, dass wir daran gedacht hatten, unseren kleinen Bruder zu retten, schenkte uns der Vater jeder ein Buch mit einer Widmung drin an diesen Tag. Das Städtchen selbst hatte Glück gehabt. Wenige Häuser wurden getroffen und die Panzerfaustfabrik nur am Rande. Dafür wurde der kleine nahe Berg aber förmlich mit Bombentrichtern durchsiebt, und zahlreiche Leute, die sich hier so sicher gefühlt hatten, wurden auch hier getötet.

Ab diesem Tag hatten wir doch mehr Respekt vor den Fliegeralarmen. Jedenfalls beobachteten wir die anrückenden Pulks mit anderen Augen und achteten genau auf die erste Leuchtrakete. Zum Glück wurde unsere Stadt nur noch ein zweites Mal bombardiert, und das so viel später, dass der erste Schreck bei den Leuten schon etwas abgeklungen war. Diesmal trafen die Bomben besser ihre vorgenommenen Ziele, wobei aber auch viele Privathäuser in den Bombentrichtern verschwanden.

Ich war Zeuge bei den danach folgenden Aufräumungsarbeiten. Zum Teil waren die Keller noch ganz geblieben, aber die Millionen von herumfliegenden kleinen Splittern hatten all die Wäsche in den Kisten und Koffern, die man hier unten ganz sicher wähnte, total zersiebt, und nichts war mehr zu gebrauchen. Auch in die anderen aufbewahrten Gegenstände drangen die Splitter so tief und vernichtend ein, dass sie unbrauchbar waren.

Ein paar unentwegte Familien machten sich nach den Aufräumungsarbeiten sofort an den Wiederaufbau ihres Hauses. Schwer war es in dieser Endkriegszeit, sich Zement, Nägel und so weiter Einzutauschen, und man musste auf Trab sein, diese Dinge zu beschaffen. Aber man konnte sie herbeibringen und das Haus wuchs und wurde fertig. Andere Familien wieder, die den Mut verloren hatten oder die keinen geschäftstüchtigen Organisator hatten, wollten „bis nach dem Krieg“ warten, denn wusste man denn, ob die angefangene Arbeit nicht noch einmal zerstört wurde? Viele von ihnen hatten aber umsonst gehofft, denn nach dem Krieg gab’s überhaupt nichts mehr an Baumaterialien, auch nicht gegen Tausch, und das blieb viele, viele Jahre so auf der Ostseite Deutschlands und dauert zum Teil heute noch an.

Schmalkalden, 26. Februar 76