Nachwort Robert Eberhardt

Vor über fünfzig Jahren verließ Selma Giebel ihre Heimatstadt Schmalkalden. Die Jahre vor der Flucht hat sie aber nicht vergessen. Eifrig schreibt die rüstige Rentnerin ihre persönlichen Erinnerungen für die eigene Familie nieder. Auch von der Zeit der amerikanischen und russischen Besatzung vor sechzig Jahren weiß sie zu berichten.

SCHMALKALDEN – Dass Schmalkalden die Stadt ihrer Jugend war, hat Selma Giebel ihrem Vater Ernst Fenner zu verdanken. Mit 41 Jahren trat er die Stelle eines Regierungsbaurats in Schmalkalden an. Die Familie wohnte im ersten Stock auf Schloss Wilhelmsburg. Nach dem Krieg lernte Selma einen Flüchtling aus dem Sudetenland kennen – ihren späteren Ehemann. Wieland, das erste Kind, wurde 1950 im Vorraum des Weißen Saals auf Schloss Wilhelmsburg geboren.

Der Aufbau der DDR bewirkte Verhältnisse, mit denen sich die junge Familie immer weniger arrangieren konnte. Die Situation verlangte den Giebels einiges ab, sodass die Flucht in die Bundesrepublik vorbereitet wurde. 1952 setzte sich Selma Giebel mit ihrem knapp dreijährigen Sohn in die Berliner S-Bahn und fuhr nach West-Berlin. Von dort aus ging es mit dem Flugzeug nach Hamburg und später nach Kassel. Andere Familienmitglieder folgten.

Heute lebt Selma Giebel in Berlin. Ihr Sohn Wieland leitet an exponierter Stelle, Unter den Linden, nahe des Brandenburger Tores, eine Buchhandlung, die auf der vorigen Frankfurter Buchmesse zur „Buchhandlung des Jahres“ gekürt wurde. Das Konzept seines Geschäftes: Es werden ausschließlich Bücher und Souvenirs über die Hauptstadt verkauft. Selma Giebel bereitet zur Zeit ihren 80. Geburtstag vor. Er soll dieses Jahr, 2005, gefeiert werden. Entweder in Berlin oder in der alten Heimatstadt Schmalkalden – der Stadt, an die sie sich noch oft erinnert. Zum Beispiel an das Jahr 1945, in dem Deutschland von der Nazi-Diktatur befreit wurde. Monate voller Ungewissheit und persönlicher Notsituationen.

„Das Kriegsende rückte näher und damit die Angst, was werden sollte. Besetzen uns die Amerikaner oder die Russen? Ich wurde damals zwanzig Jahre alt. Zuerst erschienen die Amerikaner, und wir waren glücklich darüber, denn man erzählte sich furchtbare Geschichten von Greultaten der Russen. Die Amerikaner besetzten an einer Seite unseres Berges einen Gasthof und an der anderen Seite die Knabenschule. Bei Wachablösung oder Dienstschluss liefen die jungen Kerle oft nicht den kürzeren Weg durch die Stadt, sondern kamen über das Schloss marschiert. Immer mit Stahlhelm und schussbereitem Gewehr. Wir Deutschen hatten am Tag nur ein paar Stunden Zeit, um einzukaufen oder Besuche zu machen. Ansonsten galt für uns Ausgangsverbot und Straßensperre. In dieser Zeit taten sich die Nachbarn weit enger zusammen als früher, denn es ließ sich leichter bewerkstelligen, mal schnell von einer Haustür zur anderen zu hüpfen. Zeitungen gab es keine, so saß man zusammen und erzählte, meist vom Essen, oder beschäftigte sich mit irgendwelchen Spielen.

Unsere Mütter versuchten, sich vor dem Schloss zusammenzusetzen und da sie dort nicht vertrieben wurden, saßen sie oft dort. Uns Jüngere langweilte das und wir spielten, wie früher, Ball oder Verstecken. Die vorbeilaufenden Amerikaner, selbst nicht älter als wir, guckten interessiert zu, und allmählich fühlten sie sich dort oben so sicher, dass sie mitspielten. Zuerst mit Stahlhelm und Gewehr. Aber es störte sie beim Rennen, und so stellten sie beides irgendwohin und hofften, dass kein Offizier vorbeikam. Abends saßen wir oft auf der Mauer, mit Blick auf die Stadt, zusammen und erzählten oder wir gingen alle miteinander spazieren. Eines Tages verrieten uns die Soldaten, dass sie nun wegkämen und die Russen in diese Gegend einzögen. Wir konnten die Sache nicht glauben. Warum auch sollte plötzlich gewechselt werden? Aber es stimmte.

Die Amerikanischen Truppen wurden abgezogen und die ersten Russen erschienen. Sie ließen sich auf der Wiese, dicht am Schlossteichnieder. Die Panjewägelchen wurden der Reihe nach aufgestellt und mit Zeltbahnen verbunden. Die Pferde weideten rundherum. Wir guckten von unserem Fenster aus zu und sahen erstaunt, dass gegen Abend wohlbekannte Mädchen unseres Städtchens unter den Zeltbahnen verschwanden. Von irgendwo wurden Matratzen herumgeschleppt und nachts tönte ein Raunen und Kichern bis zu uns herauf. Nach ein paar Tagen verschwanden diese Soldaten und es erschienen ganze Truppen Russen, die aber in Motorfahrzeugen angerollt kamen und Schulen nebst Gasthöfen und ihre Säle besetzten. Die Offiziere quartierten sich auch bei Familien ein. Zu uns kamen sie aber nicht. Zwar erschienen fast jeden Tag irgendwelche Soldaten und durchschritten die Wohnung, aber sie war ihnen nicht komfortabel genug, und wir hatten das Empfinden, dass es ihnen jedesmal unbehaglich wurde, wenn sie die vielen Räume durchschritten und zum Schluss überhaupt nicht mehr wussten, wo sie waren. Nein, sie suchten sich Häuser mit Zentralheizung und modernem Badezimmer aus. Wir Mädchen nahmen zwar sofort bei einer Frau, die für lange Zeit in Russland gewesen war, Russischunterricht, aber wir bekamen mit diesen Soldaten keinen Kontakt. Die meisten waren äußerst misstrauisch und meine Mutter und die anderen der Umgebung hielten uns Mädchen nun lieber im Hintergrund.“

1945 wohnte die zwanzigjährige Selma Giebel, geborene Fenner, im ersten Stock von Schloss Wilhelmsburg. Sie war eine der wenigen, der es möglich war, auf den Hof des Amtsgerichts zu schauen – einem Ort des Grauens inmitten von Schmalkalden. In dem sogenannten „GPU-Keller“ wurden nach der Übergabe der Stadt von den Amerikanern an die Russen viele unschuldige Menschen inhaftiert und gequält. Das Gebäude wurde abgeriegelt, ein Bretterzaun durchzog die Hoffnung und ließ lediglich einen Gang zum schnellen Passieren.

Auf der Grundlage eines Geheimbefehls vom April 1945 erhielt das NKWD, der sowjetische Geheimdienst, die Anweisung, das besetzte Hinterland von allen „feindlichen Elementen“ zu säubern und diese zu „liquidieren“. Tausende deutscher Zivilisten wurden daraufhin in der sowjetischen Besatzungszone verfolg und inhaftiert. Als feindliche Personen galten Partisanen, aktive Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen, Repräsentanten staatlicher Verwaltungen und ganz allgemein all jene, die sich ablehnend gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht verhielten. Denunziation jeglicher Art war Tür und Tor geöffnet. In Gefängniskellern wie dem von Schmalkalden erpresste man unter Folter und psychischem Druck „Geständnisse“. Die Vernehmungen konnten sich über Monate hinziehen, ohne dass der Betreffende wusste, was ihm vorgeworfen wurde. Sie fanden in der Regel nachts, das heißt unter Schlafentzug, statt und waren von Drohungen und Schlägen begleitet. Weitere Verhaftungen, langjährige Haftstrafen in sowjetischen Arbeits- und Straflagern oder gar die Todesstrafe folgten den Verhören. Zwischen 1945 und 1950 internierte das NKWD etwa 170 000 Personen. Das sowjetische Vorgehen bei der Entnazifizierung unterschied sich in der angewandten Härte stark von dem der Westmächte. Die Bewohner der Sowjetischen Besatzungszone waren die wahren Verlierer des verlorenen Weltkrieges.

Selma Giebel erinnert sich an die Zeit des grauenhaften Folterkellers von Schmalkalden: „Neben dem Teich lag zwischen riesenhohen Mauern das Gefängnis unseres Städtchens. Wir konnten von unserem Wohnungsfenster direkt in den Hof und Garten des Gefängnisses sehen. Früher befanden sich darin immer zwei bis drei Gefangene, die meist im Garten des Gefängniswärters arbeiteten. Jetzt aber war das Gefängnis voller ,Kriegsverbrecherʼ. Um sich lieb Kind zu machen, denunzierten die Deutschen all die Leute, die sie nicht leiden konnten oder auf die sie eifersüchtig waren. Die Denunzianten marschierten zur GPU [Glawnoje Polititscheskoje Uprawlenije, alte Bezeichnung des sowjetischen Geheimdienstes, der Verf.] und erzählten irgendwelche Lügen, und schwupp, saß der Verratene im Gefängnisse. Diese armen Gefangenen wurden Tag und Nacht von den Russen verhört. Sie hatten irgendetwas zu gestehen, was sie nicht getan hatten.

Die Häuser rings um das Gefängnis mussten von Zivilleuten geräumt werden. Wir hatten große Angst, dass wir unsere Wohnung auch verlassen müssten. Mehrere russische Patrouillen erschienen und erkundeten, was wir von unserem Fenster aus sehen konnten. Aus welchem Grund, weiß ich nicht, aber wir durften wohnen bleiben. Nur hatten wir das strenge Verbot, niemals die Fenster zu öffnen, die nach dem Gefängnis lagen. Wir hielten uns streng daran und meine Eltern lüfteten nur nachts. Wenn die Gefangenen, von denen wir einen großen Teil kannten, im Gefängnishof herumgeführt wurden, kam es nicht selten vor, dass mehrere ohne einen Grund zusammengeschlagen wurden. Nachts hörten wir entsetzliche Schreie der Opfer, die bei den Verhören gequält wurden, und am nächsten Tag passten wir auf, ob einer unserer Bekannten beim Hofspaziergang fehlte. Wir konnten kaum etwas erkennen, waren aber sicher, dass die Gefangenen verladen wurden. Das war auch so, denn am nächsten Tag ging kein Gefangener im Hof spazieren. Man hörte monatelang nichts von den Leuten und die Familien verzweifelten.

Eines Tages fand ein Bauer eines Dörfchens nicht weit von unserer Stadt [bei Breitenbach] neben seinem Feld ein Massengrab. Hier lagen sie, die armen Gefangenen. Sämtlich durch Genickschuss getötet. Nicht ein Landesverräter war darunter, denn die hatten sich rechtzeitig, feige wie sie waren, aus dem Staub gemacht. Das Leid war groß, aber laut durfte man nichts sagen, sonst verschwand man ebenfalls. Das Verbrechen wurde totgeschwiegen und mit der Zeit verblasste der Hass und das Grauen.“

Trotz oder gerade wegen der noch nicht allzu weiten Vergangenheit ist dieser schreckliche Abschnitt Schmalkalder Stadtgeschichte erst ansatzweise aufgearbeitet. Zeitzeugen werden in den nächsten Jahren immer weniger. Anstrengungen, um nachfolgenden Generationen eine Ahnung vom Leiden und Sterben der Opfer der beiden Diktaturen in der eigenen Stadt zu vermitteln, sind bisher weitgehend ausgeblieben. Im November 2000 brachte der Thüringer Verband der Opfer des Stalinismus (OdS) am Amtsgericht eine Gedenktafel an. Die Inschrift lautet:

„Hier war 1945 der berüchtigte Kerker / des sowjetischen NKWD. / Zum Gedenken an unsere unschuldig / ermordeten Kameraden. / Die Opfer des Stalinismus Thüringen“