Evakuierte

Schmalkalden, 25. Februar 76

Evakuierte

Als im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner das Rheinland mit Bomben übersäten und kein Mensch in den Großstädten mehr sicher war, wurden Familien, besonders die, die schon ihre Habe verloren hatten, ins ruhigere Hinterland evakuiert. Der Ortsgruppenleiter beauftragte seine Mannen, von Haus zu Haus zu gehen und genau festzustellen, wie viel Leute in welchen Räumen wohnten. Am Anfang war man noch human, denn da war die Wohnungsnot noch nicht zu groß. Ein oder mehrere Zimmer wurden also beschlagnahmt, und eines Tages erschien die zugewiesene Familie, denen man zumindest alle Möbel zu stellen hatte. Die Evakuierten und später die unendliche Zahl Flüchtlinge aus den Ostgebieten hatten allerlei auszuhalten in ihren zugewiesenen Zimmern. Glück hatten die Leute, die in den Städten unterkamen, denn weitaus mehr Klagen in puncto Behandlung und Wohnen hörte man von den Dörfern.

Wir bekamen ein Ehepaar mit Tochter zugewiesen. Verlegen saßen wir alle uns im Wohnzimmer gegenüber. Ich hatte meinen BDM-Rock und Bluse an, weil ich irgendetwas herumkramte, denn für BDM-Sachen waren weder meine Eltern noch ich zu haben. Nicht nur, dass ich erst sehr verspätet „wegen Unwürdigkeit“ meinen Schlips und Knoten bekam, das stolze Wahrzeichen der Jugend, sondern am Schluss des Krieges wurden mein Bruder und ich auch noch aus dem Klub rausgeschmissen. Wir hatten in der „Spielschar“ ein Theaterstück eingeübt, die Kostüme genäht und die Kulissen selbst gemacht. Das Stück war so ein Erfolg, dass sämtliche Führerinnen des Kreises eingeladen wurden, um denen mal zu zeigen, wie so was gemacht wird. Aus diesem Grund machten wir bei der Aufführung nichts als Quatsch und bogen uns auf der Bühne vor Lachen. Mit steinernen Gesichtern saßen die verantwortlichen Führerinnen auf ihren Stühlen und der Knalleffekt war der Rausschmiss aus „Glaube und Schönheit“.

Na, die Tochter des Ehepaars, sie war genauso alt wie ich, dachte bei sich: „O Gott, das ist so ʼne Hundertprozentige vom BDM.“ Aber bald stellte sich heraus, dass wir beide uns in dem Punkt und noch vielen anderen gut verstanden. Der Mann war Goldschmied und errichtete in unserem kleinen Städtchen wiederum einen Laden. Seine Tochter half ihm dabei, und vorwiegend reparierten sie Uhren oder fertigten selbst sehr schönen Schmuck an, der reißend Absatz fand. Dazu musste man aber das entsprechende Gold oder Silber abgeben. Die Frau blieb zu Hause und half nur ab und zu im Laden. Damals wurde ja der Preis nicht nur mit Geld bezahlt, sondern mit Naturalien, und durch das Geschäft hatte diese Familie immer gut zu essen, während wir schon ganz gewaltig einteilen mussten.

Meine Mutter und die Mutter meiner Freundin, denn das wurde die Tochter bald, verstanden sich ausgezeichnet, und das war für beide in diesen schweren Zeiten eine Erleichterung. Sie besprachen alles und unternahmen auch viel zusammen. Meine Mutter gab dem Goldschmied ein Stück Garten. Er hatte noch nie einen besessen und war ganz glücklich. Kurze Zeit später schaffte er sich noch Hühner an. Karnickel hatte er schon vom Ruhrgebiet in einem hohen Stall mit nach Thüringen gebracht und damit, im doppelten Boden, seine Schmucksachen, was nur meine Mutter wusste. Die Hühner hatten ihren Stall im untersten Teil des Kristallturms. Die Wendeltreppe nach oben wurde mit Holz zugestellt. Damals ging ich in Weimar zur Schule. Fast jede Woche kam ich heim, und manchmal passierte es, dass ich diese kurze Strecke an einem Tag nicht schaffte (ich musste zweimal umsteigen), weil kein Zug ging. Oft lief ich daher die Strecke nach dem letzten Umsteigen. Das waren nur etwa sechs Kilometer, aber meist war’s eben schon Nacht. Kam ich nicht nach Hause, so besuchte mich meine neue Freundin in Weimar, immer bepackt mit leckeren Essensachen. Wir gingen viel dort ins Theater. Ich hatte dritten Rang abonniert, was pro Vorstellung 1,50 RM kostete.

Diese Familie war die beständigste. Nach dem Krieg ging die Frau oft „schwarz“ über die Grenze, denn Deutschland war ja in Osten und Westen geteilt worden. Die Besatzungsmacht im Osten waren die Russen und im Westen die Amerikaner nebst Engländern und Belgiern. Man durfte sich nicht beim Grenzübergang erwischen lassen, denn das war streng verboten und man wurde bestraft. Am Anfang konnte man aber die Soldaten noch gut bestechen mit Schnaps, Kaffee, Zigaretten, Schmuck – und auch seinen Körper anbieten. Man bekam dann verraten, wann der Soldat wieder Posten stand. Gemein war’s dann, wenn der Postenplan sich plötzlich geändert hatte. Mit der Zeit wurde das „schwarz“ herübergehen aber immer schlimmer. Leute wurden erschossen oder verschwanden einfach, wenn sie sich einem Grenzführer anvertrauten. Die Regel war das nicht, aber mancher Führer bereicherte sich durch Mord. 1961 wurde in Berlin eine Trennungsmauer gebaut und durch Deutschland ein Todesstreifen gepflügt mit Stacheldrahtzaun, elektrisch geladen, und alles schön gepflastert mit Tretminen. Das ist heute noch der Fall, und zwar ausschließlich von Seiten „Ost“.

Warum die Frau über die Grenze ging? Sie bereitete den Heimgang ihrer Familie vor, und zwar kümmerte sie sich um einen neuen Ladenbau an fast demselben Platz des früheren Geschäfts. Dabei war wieder nicht nur Geld nötig und man musste schon tüchtig sein, um den Handel rüber und nüber gewinnbringend zu betreiben, was damals unendlich viele Leute taten und gut davon lebten. Bevor aber die Familie umziehen konnte, erkrankte der Mann, der so gar nicht zurückwollte, weil er Garten und Hühner so liebte, an Krebs und starb bald danach. So zogen Mutter und Tochter allein wieder zurück ins Ruhrgebiet, begleitet von dem kürzlich angetrauten Ehemann der Tochter (ein Lump).

Als weitere Familie wurde und ein Ehepaar mit zwei Töchtern, die etwas älter waren als wir Kinder, zugewiesen, und zwar bekamen die auch zwei Zimmer. Eine nette Familie war’s, aber wir hatten mit ihnen nicht so einen freundschaftlichen Kontakt. Der Mann, früher Prokurist, war damals schon pensioniert und brachte von daheim unendlich viel Fotografien mit, sein Hobby. Die beiden Töchter gingen arbeiten und die jüngere nahmen mein Bruder und ich später öfter mit zum Tanzen. Auch diese vier Leute bereiteten nach dem Krieg ihre Heimreise nach dem Ruhrgebiet vor. Aber der Mann bekam eine Gehirnerweichung, lief mehrmals weg und fühlte sich verfolgt. Kurz vor dem Umzug erhängte er sich in einem Wäldchen.

Eines Tages erschien der Bruder des Goldschmieds nebst Frau und Tochter, die auch in meinem Alter war. Der Mann war Sattler. Sie hatten keine Unterkunft finden können und meine Mutter machte auch für sie ein Zimmer frei. Etwa ein Jahr wohnten sie bei uns, dann hatten sie im Städtchen etwas mehr Platz gefunden. Als nächste Untermieter meldete sich eine Cousine meiner Mutter nebst zwei Söhnen. Auch sie kamen unter, ich weiß nicht, wie. Die Not wurde immer größer und die Cousine, eine junge blonde, zierliche Frau mit ihren beiden kleinen Jungen, weinte viel, bis sie endlich von ihrer Familie hörte. Diese Cousine kam schon aus dem Osten, und zwar aus Danzig, wo meine Mutter herstammt. Sie fuhr nach etwa einem halben Jahr mit ihren zwei Söhnen wieder zu der gefundenen Familie.

Als nächstes erschien ein junger Lehrer mit Frau und Kind, aber Mutter konnte sie nicht mehr aufnehmen. Aber sie gab den Leuten Geschirr und Bettzeug und für den Jungen Anziehsachen und blieb all die Jahre über gut Freund mit der Familie. Auch der Bruder meiner Mutter kam mit einem Teil seiner Kinder zu uns. Ihm war auf der Flucht aus Danzig seine Frau erschossen worden, und nur mit Unterhose und Hemd bekleidet, musste er mit seinen vielen Kindern allein in dem Flüchtlingspulk weiterfahren in Güterzügen. Damals kamen unendlich viele Flüchtlinge um. Teils wurden sie erschossen, teils kamen sie vor Hunger oder Kälte um. Der Bruder hatte aber eine Unterkunft gefunden, nur alles andere fehlte. So fing meine Mutter abermals an zu kramen und fand auch für ihren Bruder Bruno nebst Töchtern noch Anziehsachen, Decken und so weiter.

Am Kriegsende wohnte eine Lehrerin bei uns. Wir hatten sie vorher durch eine Bekannte in einem Kinderheim (Berliner Kinder, deren Eltern tot waren oder sie aus Platzmangel nicht behalten konnten) kennengelernt. Das Heim wurde aufgelöst und die Lehrerin saß buchstäblich auf der Straße. Sie kam zu meiner Mutter, und die behielt sie gleich da, bis der Frau nach einer geraumen Zeit eine Lehrerinnenstelle in einem winzigen Dorf in der Nähe angeboten wurde.

Kurze Zeit beherbergten wir auch noch den dritten Bruder nebst Familie des Goldschmieds.

Alles klappte vorzüglich und wir hatten nie Ärger mit den vielen Mitbewohnern. Sie halfen uns, wir ihnen, und Obst hatten wir für alle genug. Nur eins war schlecht. Es gab nur eine einzige Toilette in unserer Wohnung und morgens vor Arbeitsbeginn war das oft ein Verhängnis.

Die Sickergrube des Klos befand sich unter der Schlossküche und im Jahr zweimal (früher einmal) musste die Grube geleert werden. Früher schütteten wir jeweils einen Teil aufs Grabeland und einen weiteren auf die Miste, damit alles schön verrottete, indem mein Vater sie mehrmals im Jahr umpackte. Nun aber wollten unsere Evakuierten auch ihren Anteil für den Garten haben, denn auch der Prokurist mit Familie erhielt ein großes Stück Garten. Das ging gut, denn meine Mutter hatte die Wiese um das Schloss herum, als die Zeiten schlechter wurden, auch noch umgegraben. An einem verabredeten Tag erschienen also sämtliche Familienmitglieder mit Eimern. Meine Mutter schöpfte mit der Jaucheschöpfe die Eimer voll und nun ging ein Gejage los, denn jeder wollte die meisten Eimer auf sein Land bringen. Wir rannten und hetzten, bis meine Mutter die Eimer zuzählte. Selbst da wurde gesagt, sie hätte sich verzählt. Jedenfalls wuchs das Gemüse prächtig. Dünger gab’s ja nicht zu kaufen.