Meine Reise zu Karl nach Breitungen

Meine Reise zu Karl ins Heim nach Breitungen

Egal wohin, die Nervosität ist immer die gleiche. Meinem Bruder Karl, geboren am l. März 1924, geht es die letzte Zeit rapide viel schlechter. Vor einem Jahr kam er aus seiner Wohnung in Schmalkalden, im Schloss Wilhelmsburg, worin er eigentlich Wohnrecht bis zu seinem Tod hatte als einziger Bewohner im Schloss, in ein Pflegeheim nach Breitungen. Sein Verstand war bis vor kurzer Zeit noch hundertprozentig in Ordnung. Er konnte nicht mehr alleine wohnen, weil sein Tastsinn völlig versagte. Er griff überall daneben und sein Augenlicht ließ nach. Aus diesem Grund ging er nicht mehr raus. Dann wurde es so schlimm, dass seine Kinder Henn und Charlotte sofort für ihn ein Pflegeheim suchen mussten. Er wurde im März dieses Jahres 81 Jahre alt, ist also ein Jahr älter als ich.

Karl Fenner an seinem 75. Geburtstag am 1. März 1999 – und neben ihm ein gelber Beutel der Berlin Story.

Das Heim, welches ihn sofort aufnehmen konnte, ist im Frauenbreitunger Weg 38, im evangelischen Altenheimzentrum. In Schmalkalden besuchte ich ihn immer mal, aber im Altenheim war ich nun das vierte Mal. Die anderen Besucher kommen ja meist mit dem Auto und bleiben eine kurze Zeit. Ich konnte das nicht, aber es drängte mich immer mehr, ihn zu besuchen. Seine Kinder erzählten mir, dass es viel schlechter mit ihm geworden sei. So suchte ich mir einen Zug aus, der morgens kurz vor sechs Uhr fuhr und spät abends wieder zurück in Berlin war. Um vier morgens stand ich auf. Ich musste ja erst mit der S-Bahn hier von der Jannowitzbrücke zum Ostbahnhof fahren, wo mein Zug nach Breitungen hielt. Vorher hatte ich Karl Bescheid sagen lassen und auch dem Heim teilte ich meinen Besuch mit. Man kann dann Mittagessen und Kaffee bestellen, was ganz billig ist. Insgesamt fünf Stunden hatte ich also für meinen Bruder Zeit. Auch den Taxifahrer bestellte ich schon. Der Bahnhof liegt ein ganzes Stück entfernt vom Ort.

Der Zug war ganz leer. Ich hatte ein Buch zum Lesen dabei. Die Landschaft war frühlingshaft schön. Die Hänge voller Ginster und ganz besonders viel Mohnblumen schmückten die Ränder. Es regnete mal nicht. Der Zug überquerte die Elbe, die Saale, die Ilm, die Werra. Früher, wenn ich nach Schmalkalden fuhr, musste ich zwei Stationen weiterfahren und in eine Kleinbahn umsteigen. Ein Stück entfernt floss die Schmalkalde. Der Zug fuhr dann durch Niederschmalkalden, Mittelschmalkalden, Auehütte bis zum Hauptbahnhof Schmalkalden. Immer ein öder und schmuddeliger Bahnhof. Stieg man dort wieder um in Richtung Brotterode, am Inselsberg, schnaufte der Zug auch noch durch Kleinschmalkalden.

Na ja, nun wieder meine gestrige Fahrt. In Eisenachwo ich umsteigen musste, rief ich den Taxifahrer noch mal an. Nach zwei Worten war die Verbindung weg. Ich versuchte immer wieder, den Mann zu bekommen, aber es war stets besetzt. Ich wusste nicht, wie weit man laufen musste vom Bahnhof bis zu dem Heim. Aber als ich aus dem Zug stieg, wartete der Mann schon. Er hatte sich gleich auf den Weg gemacht, obwohl meine Ankunft noch eine halbe Stunde dauerte. Auch am Abend um 16,.45 Uhr war er ganz pünktlich. Je Fahrt drei Euro. Ich gab ihm fünf.

An der Haustüre des Heims stand eine Schwester, die sofort wusste, wer ich bin. Und oben in Karls Abteilung sagten sie alle: „Also, Sie sind die Schwester, die Herrn Fenner jede Woche schreibt. Wir lesen ihm den Brief immer vor. Auch ganz interessant für uns.“

Mein Bruder Karl saß schon seit dem Frühstück im Aufenthaltszimmer und fragte unausgesetzt, wann ich denn käme. Der erste Anblick für mich war schrecklich. Er saß im Rollstuhl, schief gelehnt nach einer Seite, Kopf sehr nach vorne gebeugt und die Augen zu. Sein Gesicht ganz eingefallen. Er freute sich und wollte nun mit mir in sein Zimmer gerollt werden. Es ist ein kleiner abgeschlossener Flur, rechts Karls Zimmer, dann Herrn Ifferts Zimmer und als nächstes das gemeinsame Klo.

Karl sagte, wie meist üblich, gar nichts. Also fing ich an zu erzählen und zu fragen. Er nickte nur immer nach unten. Seine Sorge war, ob er schon auf die Toilette gebracht worden sei und seine Pampers erneuert wären. Die vorigen Male war ich mit Karl auf die Toilette gegangen; da trug er noch keine Pampers. Jetzt kann er überhaupt nicht mehr stehen, alles ist steif. Will man seine Arme, Hände oder Beine bewegen, so geht das nicht. Es kommt einem vor, als breche man ihm dabei die Knochen. Er sitzt wie eine Holzpuppe in seinem Stuhl. Ich frage und erzähle und er antwortet nicht. „Da antworte doch mal“, sage ich, „oder verstehst du mich nicht?“ Doch, sagt er und gibt die richtige Antwort.

Mittags füttere ich ihn. Das mag er sehr gerne. Alle Leute haben mächtige Lätzchen um. Es gibt Fisch oder Hackbraten mit Beilage und zum Nachtisch Quark mit winzigen Rhabarberstückchen. Mir bringt die Schwester das Essen anschließend. Karl will nicht schlafen. Ich fahre mit ihm in den sehr schönen Garten, dahinter Wiesen mit herrlichem Gras und viel Klee. Oh, denke ich, prima Karnickelfutter. Dann fängt es an, ganz wenig zu nieseln und Karl sagt: „Ich werde ja nass!“ Also fahren wir wieder hoch und ich gebe mir Mühe, ihn gut zu unterhalten. Frag ihn nach seiner Militärzeit aus, die er ganz oben in Finnland verbracht hat. Dort, woʼs ein paar Monate dunkel ist, bewachten die Soldaten ein Kupferbergwerk. Dicht an der russischen Grenze. „Haben sie auch geschossen?“, frage ich, „Ja, beide, aber daneben.“ Es wäre allen langweilig gewesen. Er hätte halt immer gelesen. Dann war er auch ein halbes Jahr ganz in der Nähe auf einer Schule, wo er sein Abitur nachmachte. Das war bei Kirkenes (=Norwegen) –wikipedia.org/wiki/Kirkenes. Ganz oben östlich in Finnland in so ʼnem kleinen Grenzbogen neben Russland. „Na, und als der Krieg zu Ende war“, frage ich.

Da wären sie alle in Richtung Westen gelaufen zu den Amerikanern. Manchmal hätten sie auch irgendwie ein Stück mit Lastern fahren können.

Sie wurden an der Küste in Rigge, er buchstabierte, gefangen genommen, in Norwegen. In dieser Gefangenschaft hat Karl sich aus Uniformen mit der Hand einen sehr gut passenden und schönen Anzug genäht. Damit kam er später in Schmalkalden an. Zuerst aber wurden dort ein paar Soldaten abkommandiert, mit einem großen Motorboot täglich Bomben aufs Meer hinauszufahren und dort zu versenken. Die ganze Zeit dachten sie, es wären leere Bomben gewesen. Sie wunderten sich aber, dass sie besser untergebracht waren als die anderen Gefangenen und dass sie sehr gutes Essen bekamen. Auch als allererste wurden sie 1945 entlassen in die Heimat. Da erst bekamen sie erzählt, dass es sehr wohl noch scharfe Bomben gewesen wären. Ich finde auf dem Atlas weder Rigge an der norwegischen Küste noch Pedsamo (= Petsamo, heute Tampere, Finnland?). Damals, als Karl dort das Kupferwerk bewachte, hab ich aber den Ort auf dem Atlas gefunden.

Karl wurde in Schongau ausgebildet. Unsere Eltern besuchten ihn dort und brachten ihm auch Lebensmittelkarten mit. So konnte er allerlei einkaufen. Hunger hatten wir zu der Zeit ja alle ganz beträchtlich. Als nächstes kam sein Trupp nach Danzig. Dort besuchte er Mamas große Familie und war ganz begeistert. Es war Weihnachtszeit. Er brachte von den Tanten Marzipanfiguren mit, also falsches Marzipan aus Kartoffeln. Persipan hieß das. Nach ein paar Tagen Urlaub zu Hause wurde die Kompanie nach Nordfinnland verlegt.

Erika besucht ihrn Mann Karl am 1. Mai 1950 an der Grenze , vielleicht Zitzendorf (?). Er habe, schreibt Selma, nie jemanden beim illegalen Übertritt über die Grenze von der DDR nach West-Deutschland erwischt.

Das hat er gestern nicht alles erzählt. Aber auf Fragen antwortete er nach einer Weile ganz richtig. Meist aber sagte er: „Das weiß ich nicht!“ Er redete mich mit Charlotte an, Hannelore, Selma, und sehr oft rief er ganz ängstlich: „Wer ist denn da?“ Ich wusste bald gar nicht mehr, was ich noch erzählen sollte.

Dann musste er auf die Toilette. Ich rief die Schwester, die sofort kam. Ich wunderte mich, dass sie alleine kam, denn sie schafften den Karl auch nicht zu zweit vom Rollstuhl auf die Toilette oder zum Waschbecken. Seit zwei Tagen haben sie für Karl einen mächtigen Hebehilfeapparat bekommen. Ich habʼs mal im Fernsehen gesehen, wo Leute, die nicht mehr stehen können, damit hochgehieft wurden und das Gefühl des Stehens wieder bekamen. An Karls Wagen werden die Seitenhalter abgemacht, der Apparat wird unter seine Füße geschoben und er oben umgeschnallt, dann hebt sich die Bühne und er steht. Dann dreht die Schwester das Ding um, dass der Po zum Klo zeigt, und dann senkt sie den Wagen langsam. Es dauert bissle lang, aber es klappt vorzüglich. Sie können ihn auch besser waschen. Außerdem fehlt da ja noch die Routine.

Wir tranken noch zusammen Kaffee. Um 16.45 Uhr holte mich der Taxifahrer wieder ab. Karl fragte, ob ich wiederkäme, und besonders, ob ich ihm auch weiter schreiben würde. Ach, mir kamen richtig die Tränen. Aber er sah es ja nicht. Ich strich ihm lieb über seinen Kopf und seine Backen, sagte den Schwestern auf Wiedersehn und ging runter zum wartenden Taxifahrer.

Heimwärts musste ich in Eisenach und in Leipzig umsteigen, also einen Schlenker fahren. Anders ging’s nicht. Ab Leipzig fuhr man dann mit dem ganz schnellen ICE. Aber dort hatte der Zug dreißig Minuten Verspätung. Man bekam mitgeteilt, dass der Zug, der eigentlich über Berlin nach Hamburg fahren sollte, am Berliner Ostbahnhof Endstation hatte. Alle, die weiterfahren wollten, mussten mit der nächsten S-Bahn zurück bis zum Potsdamer Platz fahren und von dort aus ihre Reise fortsetzen. Solange ich mit der Bahn fahre, jedesmal ist irgend so eine Panne. Da nützt die ganze Werbung nichts, auch wenn ich vielleicht nur gerade Pech habe.

So war ich um 22 Uhr am Ostbahnhof, nahm meine Tasche und wunderte mich, wie alles anders aussieht Wo muss ich runtergehen? Ach so, ich muss ja mit der S-Bahn erst noch die eine Station bis zur Jannowitzbrücke fahren. Vorher war über Berlin ein ganz toller Wolkenbruch nieder gegangen. Alles schwamm. Ich schlich vorsichtig heim, schmiss alles im Flur ab, wusch mir Hände und Gesicht und ging ins Bett. Wirklich das erste Mal, ohne alles aufzuräumen.

Wieland hat sich sicher gewundert, dass es bei mir dunkel war. Wo ist sie? Er kam und setzte sich nebens Bett und wir erzählten uns. Das war gut, denn ich konnte mich abreagieren und schlief bis 9 Uhr morgens. Vorhin rief Lotsch an und ließ sich erzählen, wie ich Karls Zustand fände.

Ich bin aber so froh, dass ich die Fahrt zu Karl gewagt habe.

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