Selma Fenner – Einleitung

Eine Art Vorwort

Wie entstanden und entstehen meine Erinnerungen

Von uns fünf Kindern, Rudolf (*1912), Erna (*1920), Karl (*1924), ich (*1925) und Gottfried (*1927), hatten besonders Karl und ich märchenhafte Phantasien. Aber aufschreiben tat nur ich es, weil’s mir Spaß machte.

Schon als Schulmädchen schrieb ich Geschichten in ein dickes Heft. Mein Bruder Rudi, den ich sehr liebte, fand meine Schreiberei, mitsamt Fehlern, lustig und borgte sich mein Heft. Richtig stolz war ich. Aber ich bekam es nie zurück.

Ich heiratete 1949 Ernst Giebel, einen Sudetendeutschen, beschäftigt beim Finanzamt als Prüfer. Seit der Zeit fing ich an, als junge Frau, meine Tagebücher zu schreiben …

Selma Fenner heiratet Ernt Giebel am 30. Juli 1949. Das Hochzeitskleid ist von Erika, der Frau von Selmas Bruder Karl. Anzug und Hemd sind von Ernst Fenner, Selmas Vater, beides natürlich zurechtgeschneidert. Ich [Wieland Giebel] bin da auch drauf, nur noch nicht so gut zu erkennen 🙂

… über meine ganze Familie, besonders aber über meine drei Söhne. Wieland (*1950), Rolf (*1957), Gernot (*1962).

Rolf, Gernot, Wieland bei der Hochzeit (2) von Gernot und Helga in München.

Daneben beschrieb ich jede Urlaubsreise mit gemalten Bildern oder Fotos und eben später meine Erlebnisse aus Schmalkalden.

Wir wohnten in einer riesigen Wohnung mit sehr vielen Nebenräumen im Schloss Wilhelmsburg. Die Zimmer, oft mit Stuck, waren 4,20 m hoch. Die Burg gehört zu den zwei Kasseler Schlössern Wilhelmshöhe und Wilhelmstal, weil der Kreis Schmalkalden bis 1945 eine hessische En­klave in Thüringen war.

Schon alleine die Schlosserlebnisse waren interessant. Wieland wurde noch dort im „Empire-Zimmer“ vor dem großen Weißen Saal (wo wir alle Feste feierten) geboren. 1952 zogen, oder flohen, wir „nach dem Westen“, und zwar nach Kassel.

Kurz vorher hatte ich in Schmalkalden noch einen Jungen tot geboren. Er wäre ganz gesund gewesen. Das Fruchtwasser ging mir in der Stadt ab. Ein Bekannter brachte mich sofort ins Stadtkrankenhaus. Ich kam in ein Zimmer mit vier krebskranken Frauen, von denen starb dann eine. Als einziges wurden bei mir die Herztöne des Kindes abgehört. In Ordnung! Die nächsten zwei Tage dasselbe. Am dritten waren die Herztöne schwach, am vierten war das Kind tot. Man hatte mir gesagt, und das war so ziemlich das erste Wort zu mir, das Kind müsste alleine kommen. Drei Tage später kam es, nachts. Ich klingelte zweimal und wurde dafür angeschrien. Um halb vier morgens. Der Arzt war „anderweitig“ beschäftigt. Um halb neun morgens wurde das Kind abgebunden, so lange lag es zwischen meinen Beinen, und die Nachgeburt wurde geholt. Skandalöses Ergebnis der damaligen Behandlung in Krankenhäusern und ihrer hervorragenden Ärzte im Osten. Mein Mann Ernst machte in Jena gerade eine Abschlussprüfung als Großbetriebsprüfer. Ich hatte ein halbes Jahr entsetzliche Furunkulose am Rücken mit zurückbleibenden Narben. Wie mir aber scheint, beklagen sich immer noch, nach 53 Jahren, viele Patienten gerade in Schmalkalden über das unfreundliche „Nichtbehandeln“.

Ich besuchte von Kassel aus mit Wieland oft meine Eltern und Geschwister. Die Eltern holten wir 1956 nach Kassel. Nach kurzer Zeit bekam mein Vater die volle Pension. Er war ja von Kassel aus angestellt gewesen.

Beim Mauerbau 1961 besuchten uns gerade mein Bruder Karl mit seiner Frau Erika und den Kindern Henn und Charlotte in unserem gerade fertig­gestellten neuen Haus in Kassel-Harleshausen, Preserweg 17. Sie wollten aber, besonders mein Bruder, heim nach Schmalkalden. Sie wohnten auch im Schloss. Die schöne Wohnung, die Freunde, der Verlust der alten geerbten Möbel, die Angst der Zukunft im Westen … Die Grenzpolizisten staunten nicht schlecht, als da plötzlich Leute zurückkamen, anstatt zu flüchten.

13. August 1961, der Tag des Baus der Berliner Mauer. Selma sieht mit ihrem Bruder Karl aus dem Wohnzimmerfenster. Ich stehe in Lederhosen links und bin 11 Jahre alt, das Mächdchen ist Karls Tochter Charlotte und rechts sein Sohn Henn. Preserweg 17 in Kassel-Harleshausen. Karl fährt mit Familie zurück hinter die Mauer in die DDR.

Ich wohnte gerne mit Wieland und meinem Mann Ernst, geheiratet 1949 und gestorben 1978, in Schmalkalden, zog aber später noch mehrere Male in eine andere Stadt oder Dorf. Zum Beispiel fünf Jahre nach Bochum. Dort wohnte und wohnt mein Sohn Rolf mit Familie. Alles ganz schön, aber die Stadt gefiel mir gar nicht. Gernot und seine Helga sagten, dann kommst du halt zu uns nach Germering bei München. Wir sahen uns mehrere Wohnungen an. Abseits gelegen, nicht mein Geschmack und viel zu teuer, wie überhaupt das ganze Leben in München. Ich sagte also Gernot und Helga ab. So zog ich im Dezember 2001 nach Berlin. Wieland hatte ich dort schon mehrere Male besucht. Alles war dort interessant.

Davor wohnten wir aber noch fast fünf Jahre mit Ernst und meiner Familie in NRW auf einem Dorf mit 2.500 Einwohnern zwischen Warendorf und Oelde. Bald kannten wir alle Geschichten sämtlicher Familien. Wir bekamen vom „Grafen“ einen Garten. Den gestalteten wir völlig anders als die Nutzgärten der Anwohner, mit großer offener Gartenlaube mit Bänken drumrum, Rasen, Feuerstelle; es war so ein guter Boden dort, dass alles wuchs wie im Gewächshaus. Das Gartenhaus wurde zum Ort fast täglicher Zusammenkunft der vielen Nachbarn. Jeder brachte mal Kaffe oder Kuchen usw. mit. Geraucht wurde auch, was viele in ihren Häusern nicht taten. Die Firma meines Mannes in Kassel liquidierte, Preussag-Tochter, weil Kohle nicht mehr gefördert werden sollte. So vermieteten wir unser Haus auf zehn Jahre. Ernst fing in einer Bürstenfabrik an. Haack. Ein Betrüger. Er hatte keinen seiner Leute versichert. Einen Tag vor den fünf Jahren, nach denen Ernst die Zusatzversicherung zustand, starb er an Darmkrebs. Ich bekam weder die Versicherung noch das Gehalt für den nächsten Monat. Ich prozessierte. Zum Glück! Ich schlug mich gegen die Rechtsanwälte tapfer durch und bekam als Entschädigung 11.000 DM. Sonst hätte ich, wie alle anderen Angestellten nach dem Konkurs, nichts bekommen. Ein Jahr später starb mein Vater, fast 95 Jahre alt. Wir hatten die Eltern nach Ostenfelde nachgeholt. Dann, wieder welch Glück, bauten unsere Mieter selbst ein Haus. Gernot, meine Mutter und ich konnten vorzeitig zurück ziehen in unser völlig verwahrlostes Haus mitsamt Garten. Meine Mutter, hochgradig schizophren, wurde auch fast 95 Jahre alt. Es waren ungeheuer schwere nervenbelastende Jahre. Auch da half meine Schreiberei. Mit meiner alten Schreibmaschine befreite ich mich in den Tagebüchern von meinen Sorgen. Der Grund war weniger das Schreiben für die Erinnerung meiner Söhne als das seelische Loslösen von der Vergangenheit.

Meine vielen Reiseberichte, erst mit Ernst und den Kindern, dann mit meiner Freundin Charlotte, weiter mit meiner Schwester Erna, nach ihrem Tod mit meinem Bruder Karl, sind insofern interessant, weil wir stets mit sehr wenig Geld enorm viel sahen und erlebten. Also nie an einem Ort blieben und lange Jahre mit einem einfachen Zelt umherzogen.

Seit kurzer Zeit schreibe ich mit meiner alten Schreibmaschine jede Woche an meinen Bruder Karl. Er wohnt in einem Pflegeheim in Breitungen, Kreis Schmalkalden, ist hundertprozentig bei Verstand, kann aber nichts mehr selbst fühlen oder greifen und ist fast blind. Ich freue mich, ihm zu schreiben, und er wartet ungeduldig auf meine Briefe. Er bekommt sie mehrere Male vorgelesen. Ich mache einen Durchschlag von ihnen, also auch eine Art Tagebuch. Damit hörte ich vor ein paar Jahren auf und schrieb drunter, daß nun die Mütter meiner zehn Enkelkinder ihre Erlebnisse aufschreiben könnten. Ob sie’s tun oder zu altmodisch finden, das weiß ich nicht.

Berlin, 12. Juni 2005

Na ja, wie üblich, auch das Vorwort viel zu lang!