Beerdigung Selma Giebel, geb. Fenner

Selma ruht in Frieden auf einem der schönsten Friedhöfe Berlins. Es war die letzte Bestattung auf diesem Friedhof, der jetzt geschlossen ist.
Till Lenze (Enkel), Nele Lenze (Enkelin), Wieland Giebel (Sohn).

Grabrede

Es gibt jetzt keinen Genever mehr, keinen Aufgesetzten, keinen selber gemachter Johannisbeerwein – nicht mal einen Joint. Was man ausprobieren konnte, hat Selma ausprobiert.

Was man auseinanderbauen konnte, hat sie auseinandergebaut: ihr Bügeleisen, den verfluchten Mixer, den Keilriemen der Waschmaschine gewechselt. Das Haus in Kassel Harleshausen hat sie vom Keller bis zum Dach ziemlich alleine gemalert.

Sie war reiselustig und hat angepackt: schon mal den Dachgepäckträger auf den Käfer montieren, die Zeltstangen zusammenbauen, oder einen kompletten Auspuff vom VW-Bus bis nach Ruanda im Flugzeug mitbringen.

Selma war neugierig und offen: In Ruanda besuchte sie die Höfe, die Rugos, und wurde überall mit Freude eingeladen, Umukecuru Umudagi, die ältere Dame aus Deutschland. Da war sie 62 Jahre alt. Sie sah sich an, wie der Haushalt gemacht wurde, wie die Handwerke funktionierten und kommunizierte wie selbstverständlich. In Ruanda fühlte sie sich wohl: ein Garten voller Blumen und Früchte: Bananen, Ananas, Papaya, Maracuja.

Selma hat immer mit Garten gelebt. In Schmalkalden der war riesig, auf allen Seiten des Schlosses mit einer ganzen Gemüseplantage, mit einem Hang voller prächtiger Obstbäume, ausgefallene Apfelsorten, richtige Zwetschgen, Aprikosen und natürlich auch einem Blumengarten. In Kassel hatten wir erst Grabeland an der Karlsaue, dann einen Schrebergarten in Oberzwehren, schließlich rund um das Haus einen Garten in drei Etagen: Gemüse, Sträucher, Bäume. 96 Büsche Johannisbeeren in weiß, rot, schwarz und vier Stachelbeerbüsche, bestens geeignet für Obstwein. Weil ihr Mann die nicht mit miternten wollte, weil die Stacheln die Hand aufkratzen, hat sie die Büsche eines Tages abgesägt und die Wurzeln ausgegraben. Sie hatte eine spezielle Art sich durchzusetzen.

Als sie von ihrer Schwiegermutter beschuldigt wurde, Geld gestohlen zu haben, sorgte sie für den schnellen Umzug in eine eigene Wohnung. Da war sie 27 Jahre alt. Später stellte sich heraus, dass ein Bruder ihres Mannes geklaut hatte, der katholische Messdiener. Keiner half ihr oder rehabilitierte sie. Selma hätte sich das von ihrem Mann gewünscht. Als ihr Schwiegervater starb, erhielten die anderen drei Geschwister je 30.000 Mark, wir nichts. Keiner sagte etwas davon oder gab etwas ab, aber Selma zeigte ihre Großherzigkeit, ihre Großzügigkeit und ihr Verantwortungsgefühl: Sie pflegte dennoch das Grab der Schwiegereltern – erhaben über Kleingeist, Niedertracht und Geiz.

Immer liebte Selma Gärten, aber vor 20 Jahren beim Umzug nach Berlin wollte sie in die 15. Etage mit Blick auf den Fernsehturm. Nach 14 Tagen erzählte sie: ich glaube, die sind hier alle von der Stasi. Ich glaube, sie hat recht. Die waren aber harmlos. Deren Zeit war vorbei.

Früher war das nicht so. Selma hat Nazis verachtet. Sie war 13 Jahre alt, als sie immer auf die andere Straßenseite wechselte, um vor den BDM-Führerinnen nicht mit dem Führergruß salutieren zu müssen. Später erzählte sie, wie die Kinder in Weimar in der Pause darüber sprachen, dass oben auf dem Ettersberg im KZ wieder welche verbrannt werden. Sie hat das alles haarklein miterlebt und wenn man sie danach fragte auch ganz genau erzählt. Sie hat die Nazis verachtet – als Kind und Zeit ihres Lebens. Wie sie es aushalten konnte, dass die Deutsche Nationalzeitung bis 1978 jede Woche in Haus geliefert wurde, danach habe ich leider nicht gefragt, und sie hat es auch nicht aufgeschrieben.

Mit Ihrem Schreiben bereitet sie uns jetzt die größte Mühe. Das ist so viel. Mit meiner Geburt fing das an, als Selma 25 Jahre alt war. Da ging es um den kleinen Wieland – welche Wunder eine junge Mutter beim ersten Kind wahrnimmt. Von 25 bis 95 – das sind 70 Jahre. 70 Jahre Papierproduktion: Für jede Reise ein eigener Ordner, Aufzeichnungen über die Familie, über ihre Vorfahren, ihre Geschwister, die Familientreffen, die Wandergruppen. Sie beschrieb, wie sie in jedem Jahr in der Berlin Story bei der Inventur die Brötchen schmierte. Es gibt einen Stapel von tagebuchähnlichen Briefen an ihren Bruder Karl Fenner und zuletzt die Berichte über das Pflegewerk, die seltsamen Nachbarn.

Im Pflegeheim sprach Selma oft über ihren Bruder Gottfried, der mit zwei Jahren eine Hirnhautentzündung bekam – damals unheilbar bevor es Antibiotika gab. Ihr ging jetzt wieder durch den Kopf, wie sie Gottfried gefüttert hatte, wie er eigentlich immer zufrieden war und glücklich strahlte. Als es ihm schlecht ging, unterbrach Selma die Schule, fütterte ihn – bis er eines Tages nicht mehr schluckte und im Alter von 18 Jahren in ihren Armen starb. Liebe. Liebe geben und für andere da sein. Das war ein bestimmender Teil ihres Lebens. Schon als Kind, dann gegenüber ihren Kindern – aus wie vielen unerträglichen Situationen hat sie mir heraus geholfen – und die Liebe gegenüber ihren Eltern, die sie bis ins Alter von 94 und 95 Jahren gepflegt hat. Liebe als Witwe, die ihr Vermögen ihren drei Söhnen vermacht hat, damit es uns gut geht. Zum Schluss hatte sie nichts mehr und bekam auch nicht viel zurück. Selma hat immer viel mehr Liebe gegeben als empfangen. Ihre Liebe war einzigartig. Sie hatte Antworten auf alle Fragen des Lebens.

Ihre letzten Worte zu mir waren: „Wir müssten einen Acker haben, damit wir genug zu Essen haben.“ Die Hungerzeit nach dem Krieg, das war das Schlimmste. Und jetzt freuen wir uns, dass Selma danach keinen Hunger mehr hatte, es immer aufwärts ging und sie lange wirtschaftlich abgesichert lebte, ohne Belastungen und in einem Umfeld, das sie sich selbst ausgesucht hatte und mit dem sie zufrieden war – so, wie mit diesem Ort der ewigen Ruhe.

Wieland Giebel, Sohn

Zu einem früheren Zeitpunkt, vor Jahrzehnten, hatte Selma vorgeschlagen, anonym bestattet zu werden. Ich möchte jedoch nicht, dass sie sang- und klanglos verschwindet. Ein Ort des Gedenkens an ihr liebevolles Leben ist mir lieber.

Till, Nele, Wieland