Als mein Vater 1932 als preußischer Beamter von Glatz in Schlesien nach dem thüringischen Kreisstädtchen Schmalkalden, fast alles Fachwerkbau, versetzt wurde, suchte er verzweifelt eine große, geräumige Wohnung für sich, meine Mutter, uns fünf Geschwister nebst dem Dienstmädchen Rosa, die mit umgezogen war. Ein Jahr wohnten wir in einer beengten Wohnung am Neuen Teich, aber dann fand er das Passende.
In dem über der Stadt liegenden hessischen Schloss, Schloss Wilhelmsburg, einem Viereckbau mit Innenhof, an den Seiten Türmchen und der große Glockenturm, ließ er die alte Landgrafenwohnung herrlich herrichten, und zwar sämtliche Zimmer, 4,20 m hoch, nach alten Vorlagen.
Sie sollte eigentlich leer bleiben, weil sie völlig verkommen und verdreckt war. 800 RM bekam mein Vater für die Renovierung vom Staat, den Löwenanteil bezahlte er selbst.
Der Kristallturm hinter dem Schloss – unser Spielplatz. Hinten erkennt man das Bediensteten-Haus, in dem eine Familie mit fünf Kindern wohnte. Im Keller befand sich eine Zigarrenherstellung. Dort halfenb wir öfters fachgerecht.
Im Schloss befand sich noch eine evangelische Kirche, alles voller Stuck, wie in vielen Räumen, und mit einer uralten kleinen Orgel mit Elfenbeintasten, verziert mit geschnitzten Ornamenten. Und dann noch ein Museum, das langsam vervollständigt wurde. In den „Dienstwohnungen“ wohnten nach der Westseite noch drei Familien, eine hatte ein Kind. Diese Räume waren klein und niedrig, hatten aber einen weiten Blick über die Stadt in die Berge und das Werratal.
Schloss Wilhelmsburg. Im Erdgeschoss befindet sich die (kleine) Wohnung, in der Selmas Bruder Karl bis 2004 wohnte. Das ist nicht die Wohnung, in der Selma aufwuchs.
Unsere Wohnung erreichte man durch eines der vier Seitentürmchen (Foto unten) über eine enge Wendeltreppe, und wir Kinder hatten mit der Zeit eine beachtliche Geschwindigkeit, diese Wendeltreppe hinunterzuflitzen, durch den Hof zu rennen und den Berg in das Städtchen hinabzurasen. Fast nie wurde normal gegangen.
Der Schloßhof mit einem der vier Türme.
Die hohen Zimmer waren im Durchschnitt 40 qm groß. Der Weiße Saal allerdings, in dem wir das Weihnachts- und andere Feste feierten, war doppelt so groß und voll wunderbarer Stuckornamente.
Eigentlich war er noch größer, aber eine Wand wurde irgendwann zwischengezogen.
Dieser Raum war Papas Bibliothek und man konnte von dort durch eine Tür auf die Empore der Kirche gehen.
Alte, nun zugebaute Kamine sorgten dafür, dass wir uns auch fühlten „wie in einem alten Schoss“, denn der sich darin fangende Wind murmelte und gurgelte die unheimlichsten dumpfen Melodien. Über eine winzige, sehr steile Treppe mit Falltür gelangte man in das Zwischengeschoss hinunter.
Hier lagen noch ein paar kleine Zimmer, deren Fenster mit dicken Eisenstäben vergittert waren, und der „Heuboden“, ein riesiges rohes Zimmer mit Holzfußboden, durch den man in das untere Geschoss sehen konnte. Einen Teil dieses Zimmers ließ Papa als Speisekammer herrichten, und die beiden Räume, in denen wir dann tatsächlich in den Notzeiten Heu lagerten und unsere vielen Zentner verschiedener Äpfel nebenan, waren so luftig, dass die Äpfel im Frühjahr noch genauso glatt auf dem Fußboden lagen wie frisch geerntet. Eine weitere Treppe tiefer gelangten wir in die „Schlossküche“. Ein riesengroßer Raum, der durch zwei Geschosse ging, also ca. acht Meter hoch. Ein mächtiger Kamin inmitten der Küche beherrschte den Raum, und wenn man sich genau in die Mitte stellte, sah man durch den immer enger werdenden Kamin den Himmel. Im 18. Jahrhundert wurden hier hinein zwei große Kessel eingebaut zum Kochen, die aber schon verrottet waren. Von der Schlossküche gingen wir durch weitere Räume entweder in den Garten oder in die Waschküche und von dort in einen Raum mit Erdfußboden, worin eine uralte Feuerwehrspritze stand, worauf sich unsere Hühner nachts hockten. Oder wir gingen durch zwei weitere andere Räume in den Keller. Diese wurden verschlossen durch zwei uralte Türen, niedrig, mit mächtigen Angeln und Schlössern.
Eine sehr steile, aber breite Steintreppe mit tiefen Stufen führte weit hinunter in zwei tiefe Gewölbe. Diese stammten noch von der früher im 13. Jahrhundert hier stehenden, abgebrannten Walrabsburg.
Wir lagerten dort Kartoffeln, Gemüse, Wein und Saft. Es tropfte ständig von den Wänden, und ein winziges Fenster ganz obenan der Wand konnte den Raum nicht erhellen. Darum mussten wir immer mit Laternen hinabklettern, und ich hatte meine ganze Kinderzeit Angst, dort alleine hinunterzugehen. Über unserer Wohnung befand sich nur noch der Boden, der über das gesamte Viereck lief und durch wenig Wände und Türen unterbrochen war. Um das Viereck zu durchlaufen, mussten wir auch den Glockenturm durchqueren.
Die Glocken wurden, wenn Gottesdienst war, noch am Seil gezogen, und die schweren Uhrketten musste man mit ganzer Kraft herunterkurbeln. Eine äußerst interessante und häufig genutzte Spielecke, besonders bei schlechtem Wetter. Durch den Ziergarten lief man zur kleinen und großen Pfalz; eine kleine, turmartige Plattform, wo früher, bei den Landgrafen, die Kapelle spielte, und daneben, etwas tiefer, die große Pfalz, ein alter gepflasterter Platz. Dort wurde exerziert, gelustwandelt und getanzt. Von Zeit zu Zeit wurde die Pflasterung unterbrochen durch Löcher, die mit Gittern zugemauert waren. Unter der kleinen Pfalz nämlich führte eine steile, sehr defekte Steintreppe in den „unterirdischen Gang“, der eben durch diese Löcher belüftet und erhellt wurde. Von diesem Gang kamen wir in noch drei tiefergelegene feuchte Räume, und vom letzten Raum konnten wir Kinder uns mit einem Seil in einen noch tieferen Raum herablassen.
Das Schloss war umgeben von einer hohen Mauer, in deren nördlichem Teil der Kristallturm stand. Er bestand aus einer winzigen defekten Wendeltreppe, dunkel, und seitlich drei kleinen Räumen mit zerfallenem Mauerwerk. Vom untersten Raum konnten wir uns wiederum mit einem Seil durch eine etwa 80 x 80 cm große Falltür in einen düsteren Kellerraum hinablassen, mit dicken Eisenringen an den Wänden, woran früher die Gefangenen gekettet wurden.
Wir Kinder nahmen natürlich mit viel Neugier und Freude diese neue Wohnstätte an. Sie bot uns so viel Möglichkeiten und Anregungen, dass wir ständig beschäftigt waren, uns Abenteuer auszudenken und zu bestehen. Unsere Phantasie trug uns viele Jahre zurück, was wir durch selbst erdachte und genähte zeitgerechte Kostüme unterstrichen.
Das Schloss ist umgeben von einer Wallmauer, etwa zwanzig Meter entfernt, die sich teilweise in die Höhe streckt, teilweise in die Tiefe geht. Etwa zehn Meter ist sie hoch. Und etwas weiter weg wird die Burg von einer zweiten solchen Mauer umschlossen. Zwischen diesen nordöstlichen Mauern steht noch das große alte Ritterhaus mit einem wunderschönen Garten davor. In diesem Haus wohnte eine Familie mit fünf Kindern, die viel an unseren Spielen beteiligt waren. Jetzt wird es als Forstamt genutzt.
Vellmar (bei Kassel), 12. März 95