Meine Mutter
3. September 1890 – 4. Juni 1985
Geboren wurde sie in Danzig-Plehnendorf in einer großen Familie, nämlich mit noch elf Geschwistern, von denen später, mit ihr, noch neun lebten. Ihre Eltern besuchten gerade deren Eltern, als dort meine Mutter geboren wurde. Ihr Vater war am sogenannten „Holzfeld“ beschäftigt. Billiges Holz wurde in Russland gekauft. Man flößte die Unmengen Stämme die Flüsse hinunter, die Weichsel entlang bis nach Danzig-Weichselmünde oder Neufahrwasser. Von hier aus wurde das Holz in noch größeren Pulks weitergeleitet bis zum Meer. Mamas Vater, als Beruf wird angegeben Flößer und Schiffer, war ein großer und kräftiger Mann. Er hieß Niemand und trank viel, wie alle Flößer. Ewig hatte er zumindest nasse Füße. Hundert Jahre vorher hieß die Familie „Nieman“. Mamas Mutter stammte von einem Bauernhof in der Niederung. Sie war eine geborene Woywod. Ihr Vater wurde eines Nachts aus Versehen, wie erzählt wird, erstochen, und sie bekam einen „Advokat“ als Stiefvater, einen tüchtigen, kinderlieben und freigiebigen Mann. Er half seiner Stieftochter sehr viel. Die Mutter also „aus besserem Haus“ mühte sich ihr ganzes Leben, ihre vielen Kinder gut zu erziehen, proper zu kleiden und sie in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken. Unentwegt nähte und strickte sie für ihre Kinderschar und saß oft schon morgens um fünf vor dem Häuschen in der aufgehenden Sonne und nähte, bis die Kinder aufstehen mussten. Sie liebte ihren Mann abgöttisch.
Meine Mutter wurde Verkäuferin. Erst in ihrem Dorf und dann direkt in Danzig, und zwar in dem großen Porzellangeschäft „Axt“. Hier lernte sie meinen Vater kennen, der in der Uni Danzig Architektur studierte. Mama war ein schlankes, dunkelhaariges und dunkeläugiges Mädchen. Sie trug ihr Haar offen und hatte es hinten mit einer großen Schluppe zusammengerafft. Besonders diese wippende Schluppe hatte es meinem Vater angetan, die er, wenn er vor dem Geschäft auf sie wartete, als Silhouette durch die dünnen Vorhänge sehen konnte. Als Student hatte er Zeit und verfolgte sie unentwegt. Wenn abends die letzte Fähre fuhr, brachte er sie heim in ihr Dorf und musste einen stundenlangen weiten Umweg laufen zurück nach Danzig. Mamas Mutter war nicht glücklich über diese Verbindung, denn sie befürchtete, dass der Student ihre Tochter nicht heiraten würde. Leider starb sie auch, bevor sie erleben konnte, dass meine Eltern doch heirateten, weil mein ältester Bruder Rudi schon sehr unterwegs war.
Vorher aber war meine Mutter, damals eigentlich völlig unmöglich, in eine kleine Wohnung zu meinem Vater gezogen. Ihre Arbeit hatte sie aufgegeben, denn mein Vater machte mit ihr weite Tagesausflüge (bis zu ihrer beiden Tod) und wollte sie halt ganz für sich haben. Nebenbei studierte er mehr oder weniger.
Als mein ältester Bruder (zwölf Jahre älter als ich) zwei wurde, brach der Erste Weltkrieg (1914—1918) aus und mein Vater musste in den Krieg ziehen. Geld hatten meine Eltern nicht, also musste meine Mutter mit Sohn zu ihren Schwiegereltern Rudolf und Selma Fenner, geborene Ranke, ziehen nach Marburg in Hessen. Diese Familie war entsetzt über die Wahl meines Vaters und ließ dies meine Mutter ständig spüren. Besonders die drei Schwägerinnen nahmen sie nicht an. Sie bekam Unterricht in Englisch, Französisch und so weiter. Aber sie verstand es gut, sich gegen die Attacken zu wehren. Ein paarmal besuchte sie ihren Vater in Danzig, aber der konnte sie aus finanziellen Gründen nicht lange bei sich behalten. Aber nach den Erzählungen hatte sie es recht gut bei ihren Schwiegereltern und Schwägerinnen.
Gleich nach dem Krieg studierte mein Vater fertig und bekam seine erste Stelle in Hannover. Weiterhin aber mussten sie noch lange von Vaters Eltern unterstützt werden.
Mit der Zeit passte sich meine Mutter auch gesellschaftlich an. In der damaligen Zeit war es nicht üblich, dass man „unter dem Stand“ heiratete, und daher wurde das Elternhaus meiner Mutter niemals erwähnt. Wir Kinder wussten so gut wie nichts davon, außer meinem ältesten Bruder. In der Schule wurden wir gefragt, was Eltern und deren Eltern beruflich gewesen waren, und jedes Mal kamen wir in peinliche Bedrängnis, denn fragten wir die Eltern, was Mamas Vater gewesen wäre, gerieten sie in nervöse Wut und befahlen uns, „Kapitän“ zu sagen. Wir wussten aber durch den großen Bruder recht wohl, dass dies nicht stimmte, und schämten uns sehr. Erst als wir groß waren und meine Mutter schon sehr alt, erzählte sie endlich ihre richtigen schönen Erinnerungen, und sie sah selbst, dass sie all die Jahre über hätte stolz sein können auf ihre Eltern.
Aus demselben Grund hatte sie auch kaum Kontakt zu ihren Geschwistern. Nur eine Schwester, anhänglich und zäh, wie sie war, Alma in Berlin, hielt Kontakt mit allen Geschwistern. Sie kam oft mit Mann oder Freundin zu uns nach Schmalkalden. Zum Verreisen hatte sie kein Geld, weil ihr Mann sehr wenig verdiente. Ich selbst lernte einen ganz kleinen Teil meiner Verwandtschaft erst nach dem Krieg kennen, als sie nach der Flucht aus Danzig zu uns kamen und von meiner Mutter mit Wäsche, Bettwäsche und überhaupt allem Hausrat versorgt wurden. Das tat sie nicht nur mit ihren Verwandten. Sie nahm auch locker viel mehr Evakuierte und später Flüchtlinge auf als alle anderen Leute.
Mein Bruder Karl, ein Jahr älter als ich, besuchte als Soldat in Danzig unsere Verwandten. Er wurde sehr herzlich aufgenommen, überall rumgezeigt, sah, wie sie lebten und wohnten. Alle hatten einen guten handwerklichen Beruf. Nach Karls Erzählungen konnten wir nun wenigstens die Verwandtschaft unterscheiden.
Meine Mutter bekam fünf Kinder, wovon jedes in einer anderen preußischen Provinz geboren wurde, bedingt durch die Versetzungen meines Vaters. Ab dem fünften Kind, mein jüngster Bruder Gottfried, der in Glatz geboren wurde, hatte sie ein „Mädchen“. Vorher hatte sie nur ein Kindermädchen, das aber nur stundenweise kam, und eine Waschfrau. Sie hielt ihren riesigen Haushalt nebst großen Gärten im tipptoppen Zustand. Sie konnte vorzüglich kochen und jährlich kochte sie Unmengen Eingemachtes aller Art, Gelees und Marmelade.
Die Eltern erzogen uns damals schon auf eine Art „antiautoritär.“ Sie entschuldigten ihren Kindern alles und wir waren frei und ungebunden. Ab und zu bekamen wir aber doch Prügel, und zwar mit dem „Puschel“. Das war ein Staubwedel aus schwarzen, flauschigen Federn und unten dran ein langer, dünner Rohrstock. Der Stock zog beachtlich. Gelang es uns aber, uns in den kommenden Minuten aus dem Blickfeld meiner Mutter zu drücken, blieb der Rohrstock in der Ecke.
Ein Ereignis weiß ich noch recht gut. Wir Kinder waren etwa elf bis zwölf Jahre alt, und meine Mutter wollte, wütend wie sie war, aus irgendeinem Grund meinen Bruder Karl verhauen. Sie erschien also mit dem Puschel im Wohnzimmer, wo wir gerade spielten. Mein Bruder sah das Verhängnis und lief rund um den großen Wohnzimmertisch. Meine Mutter immer hinterher. Zum Schluss warf sie aus Verzweiflung den Rohrstock über den Tisch nach ihm, weil sie ihn nicht einholen konnte. Ich stand daneben und lachte und lachte, bis wir alle drei lachten und das „Vergehen“ unbestraft blieb.
Meine Schwester Erna war viereinhalb Jahre älter als ich und wollte immer „fein“ sein. Karl und ich neckten sie bei jeder Gelegenheit. Wir waren halt zwei gegen eine. Meine Mutter zankte sich nie mit ihren zahlreichen ganz verschiedenen Nachbarn. Mein jüngster Bruder Gottfried bekam mit zwei Jahren Hirnhautentzündung. Damals gab’s noch kein Penizillin zur Heilung. Er wurde mit verschiedenen Mitteln behandelt, wurde punktiert und sonst noch was. Der schreckliche Erfolg war, dass er am Leben blieb und erst mit achtzehn Jahren starb. Ein hübscher Junge mit roten wunderschönen Schnapplocken. Er bekam „Krämpfe“, epileptische Anfälle, immer mehr, und war die letzten Jahre bettlägerig, war aber nie wund. So konnten die Eltern eigentlich nie wegfahren. Immer mal fuhr meine Mutter mit, wenn mein Vater zum Regierungspräsidenten nach Kassel fahren musste. Dann blieben sie zwei Nächte weg, weil sie auch gleich noch Papas Mutter in Marburg besuchten. Also, die Mutter schuftete wirklich mit unserer Rosa in Haus und Garten herum. Eins aber tat sie nicht gerne: stopfen. Damals wurde alles gestopft, bis es überhaupt nicht mehr zusammenhielt. Aus diesem Grund lernten wir zwei Schwestern recht früh, unsere Sachen in Ordnung zu halten.
Etwa ab Mamas fünfzigstem Lebensjahr stellte sich heraus, dass meine Mutter Asthma hatte, eine Krankheit, die meinen ältester Bruder Rudi von Kindheit an peinigte. Darunter hatte sie dann sehr zu leiden, und weil sich auch noch Magengeschwüre einstellten, musste sie sich recht quälen. Mein Vater sagte immer: „Ihr glaubt gar nicht, wie krank eure Mutter ist. Ein Wunder, dass sie noch lebt.“ Und wir nickten bekümmert und mitleidig.
Irgendwie muss da aber ein Haken gewesen sein. Diesen Spruch sagte mein Vater nämlich immerhin 35 Jahre lang. Das Asthma verschwand und am Magen wurde sie dann sehr erfolgreich operiert. Gleich zusammen mit der Galle. Im Laufe der Jahre wurde beim ständigen Erzählen die Zahl der Operationen vervielfacht und die fast tödlichen Operationen wuchsen an. Wenn man ihr dann sagte: „Aber Mama, überleg doch mal, wie viel Operationen waren es nun wirklich?“, dann hörte sie das sehr ungern. Aber bis ins ganz hohe Alter sorgte sie sich um ihre große Familie und war mit Papa ständig auf Trab, für Kinder und Kindeskinder Geschenke einzukaufen. Sie wurde 94 1/2 Jahre alt und Papa 94 3/4. Sie starben in meiner Familie (Kommentar: Selma hatte ihre Eltern in die Wohnung nach Ostenfelde geholt, die dafür eigentlich viel zu klein war.)
Mamas 82. Geburtstag auf unserer Terrasse, Kassel, Preserweg 17
Schmalkalden, 22. März 76