Mein Großvater

Mein Großvater Rudolf Fenner

In diesem langen Beitrag über die Vorfahren geht es etwas durcheinander. Ich (Wieland Giebel) sollte das später sortieren und die hier kurz vorgestellte Verwandschaft umfangreich verlinken. Die Familie Fenner, Selma Fenner, geht in direkter Linie zurück auf Heintze Venner, *1370, der Schöffe am Gericht von Ziegenhain in der Schwalm/nördliches Hessen war. Deswegen sind Daten von ihm vorhanden. Bei der Familie Ranke handelt es sich um die fünf Brüder Ranke (und zwei Schwestern, die aber als Frauen meist unerwähnt bleiben), von denen der älteste der Historiker Leopold von Ranke war. Sie stammen aus Wiehe/Thüringen. Dann kommt noch Familie Hitzig vor, das ist der Architekt Friedrich Hitzig, der die Börse in Berlin Entwarf, sein Vater Eduard Hitzig, der Psychiater und Hirnforscher, beide zurückgehend auf Daniel Itzig, den preußischen Bankier, der zusammen mit Ephraim (Palais) für Friedrich den Großen, den größten Geldfälscher aller Zeiten, mit erbeuteten polnischen Prägestempeln Falschgeld prägte.

Im Laufe der Zeit habe ich mir eine Menge Notizen gemacht über Dinge, die ich erzählt bekam. Leider hab ich viel zu wenig gefragt. Diese Notizen nun zu ordnen, fällt mir richtig schwer. Ich habe mir die Zettel mit Nummern, Kreisen und Kreuzen versehen, dass ich die Reihenfolge kriege, aber dann stimmt‘s doch nicht. So ist mein Geschreibsel halt, wie das anderer auch, durcheinander und wiederholt sich oft. Ich denke nur, vielleicht interessiert sich doch mal jemand aus der Familie für die Vergangenheit.

Rudolf Fenner, Selmas Großvater. 1927 mit Frau Selma, geb. Ranke, im Garten in Marburg.

Es sind nicht Dutzende solcher Rötelzeichnungen, die Selmas Großvater Rudolf Fenner gezeichnet hat, sondern Hunderte. Alltagsszenen im Haus und auf dem Hof. Neben Schwälmerinnen, wie auf diesen beiden Bildern, kommen sehr häufig Kühe vor, ruhend und in Bewegung, sagenhaft genau.

Eine Kaffeemühle – welcher Wohlstand! Aus der Schwalm, östlich von Marburg, südlich von Kassel, stammt die Familie Fenner, zurückgehend auf Heinze Fenner, der 1370 geboren wurde. Bis heute wohnen auf dem Hof „Storchennest“ und in der näheren Umgebung Fenner-Familien.

Als mein (Selmas) Großvater 1928 in Marburg starb, war ich noch nicht drei Jahre alt. Ich kenne ihn also nur von Bildern und vom Erzählen. Er wurde auf dem Friedhof unter dem Rotenberg, wo die Calvinstr. und der Landweg lagen, Besitz der Großeltern, beerdigt. Ebenso dann seine Frau Selma Fenner, geb. Ranke, 1943. Wenn wir mit unserem Vater nach Marburg fuhren, besuchten wir auch die Gräber. Vielmehr, wir spazierten vom Bahnhof über den Friedhof rauf zur Calvinstraße. Als vor ein paar Jahren Erna und ich mal gucken wollten, waren die Gräber weg. Am Rand des Friedhofs standen eine Menge ganz alter Grabsteine, aber die von den Großeltern waren nicht dabei. Das erzählten wir unserer ältesten Cousine am Sandweg, der Tildi (Mathilde) Sauer. Sie und ihr Mann wussten das nicht, weil sie nie dort gewesen waren. Ebenso kannten sie nicht das Grab von Ernst Ranke auf dem Friedhof der Marienkapelle. Als wir sie dann nach einer Zeit wieder besuchten, 1993, erzählten sie, dass sie den Grabstein vom Friedhofsgärtner haben suchen lassen. Er war da und sie hätten ihn jetzt im Garten. Das alles erzählten sie mit echauffierter Miene und als ob es selbstverständlich wäre wegen der Familienehre. Wir haben nichts dazu gesagt.

Der Großvater, Rudolf Fenner, geboren am 10. Juni 1840, war Amtsgerichtsrat. [Ergänzung Wieland: Er lief zu Fuß zu seinen Gerichtsterminen auf dem Land und nutzte diese Zeit für seine Zeichnungen.]

Rudolf Fenner ist hier nicht auf dem Foto, aber er erwarb den Schrank, den Dickkopf, der jetzt bei mir steht. Wieland Giebel. Hier sitzen Charlotte Fenner, meine Großmutter, Ernst, der jüngste Sohn von Rudolf, sowie deren erstes Kind Rudolf, der älteste Bruder meiner Mutter. Das müsste, wenn Rudi hier vier Jahre alt ist, 1917 sein.

Seine Schwester war meine Patentante Henriette, die damals schon eine alte Dame war, auf dem Marktplatz mit ihrer Dienerin wohnte und, das Interessanteste, eine Tapetentür zu ihrem Schlafzimmer hatte. Als ich klein war, bekam ich von ihr immer mal ein silbernes Löffelchen, sonst nichts. Der Vater von Großvater Rudolf war am Obersten Gericht in Hanau Richter. In Hanau wurde auch Rudolf geboren. Er ging in Hanau aufs Gymnasium und später nach Schulpforta, ein sehr weit berühmtes Gymnasium damals. Er lief in den Ferien von Hanau nach Kassel-Kirchditmold zu seinem Großvater Gottfried Fenner, der dort Pfarrer war.

Die Fenners liefen überhaupt alle gerne und viel und lange. Neben dem Gymnasium war er gleichzeitig an der Bauakademie, wo er malen lernte. Er konnte so gut zeichnen und malen, dass er für den Direktor Bilder abmalte, und dieser verkaufte sie als Originalkopien der Künstler.

Von seiner Schwester Henriette habe ich noch einen handgeschriebenen Bericht über ihre Familie.

Henriette Fenner (suchen) war nicht verheiratet, und das schob sie das ganze Leben auf ihren Großvater, weil sie zu klug gewesen wäre. Sie wuchs bei ihrem Großvater Pfarrer Gottfried Fenner in Kassel-Kirchditmold auf.

Johann Gottfried Fenner, Pfarrer dieser großen Kirche in Kassel-Kirchditmold

Beim Gänsehüten gab ihr Gottfried eine Menge Lektionen zum Lernen auf, konnte sie die abends nicht, bekam sie Prügel. Ansonsten muss er aber sehr lieb zu ihr gewesen sein. Sie konnte eine Menge Sprachen perfekt. Beim Mittagessen wurden die Hilfspfarrer examiniert. Konnten sie’s nicht, wurde Henriette gefragt, und die konnte es. Sie war dann nicht stolz, sondern ärgerte sich über den Großvater. Die Pfarrer verdienten früher sehr wenig. Deshalb wohnten seine Hilfspfarrer bei ihm gegen Kostgeld. Er hatte den größten Pfarrbezirk von Hessen. Kirchditmold (damals angeblich ein dreckiges Dorf, das Fachwerkpfarrhaus steht noch): Harleshausen mit Großbauern, Wehlheiden und Rothenditmold.

Gottfried Fenner, geb. 1782 in Ziegenhain, gest. 1864 in Kassel-Kirchditmold. Vorher Pfarrer in Haina und Hof bei Kassel. Geht man rechts neben der Kirche Kassel-Kirchditmold durch das Friedhofspförtchen und ein Stückchen geradeaus, steht da eine alte Linde mit einem großen Sandsteinobelisk drunter. Die Inschrift verwittert immer mehr.

Die zweite Schwester von meinem Großvater Rudolf Fenner hieß Mathilde. Sie war als junge Frau Gouvernante in England. Rudolf hatte seine erste Anstellung beim Konsistorialamt Marburg. Als Hessen preußisch wurde, haben der Staat und die Kirche miteinander Verhandlungen geführt, um alles neu zu ordnen. Um dies zu machen, wurde er nach Berlin versetzt, wo er ein Jahr war und sich wegen „dem Dreck in Berlin“ schnell versetzen ließ. Seine Schwester Henriette führte ihm in dem Jahr seinen Haushalt. Hier lernte sie ihren Vetter Gottfried Fenner kennen. Er war Richter am Obersten Gericht in Leipzig. Als die Kriege Österreich-Frankreich vorbei waren, wurde alles zurechtgeschoben. In Leipzig waren die Prozesse; Staat, also Preußen, gegen andere Länder. Hier das machte der Gottfried. Mathilde heiratete ihn und sie hatten drei Kinder.

In Hessen wurde eine Amtsgerichtsratstelle frei. Mein Großvater Rudolf Fenner meldete sich schleunigst, denn er hielt den Gestank in Berlin, wo es noch keine Kanalisation gab, nicht mehr aus. Er kam nach Fronhausen, wo auch später seine vier Kinder, als er geheiratet hatte, geboren wurden. Der Nachzügler Ernst kam dann in Hersfeld zur Welt. Großvater war also noch ledig. Da starb sein ebenfalls lediger Bruder Gottfried Ludwig Fenner, der eine Papierfabrik bei Darmstadt hatte. Erst war er dort Angestellter, dann Kompagnon, dann Alleinbesitzer. Er stellte vorwiegend das berühmte Büttenpapier her für den preußischen Staat. Auf einmal starb er und Opa erbte die Fabrik. Er hatte kaufmännisch nie eine Ahnung und verkaufte daher die Fabrik.i

Von dem Geld baute er in Marburg ein großes rotes Klinkerhaus, ganz kurz bevor man an den Fuß des Rotenbergs kam, auf der rechten Seite mit einer hohen Stützmauer zur Straße hin, dass man das Haus kaum sieht. Er baute es für seine Mutter und Geschwister. Er half sowieso immer seinen Geschwistern. Sein Vater starb ja früh. Nach der Revolution 1848 (so erzählte man mir) musste auch der Vater Soldat sein und Wache schieben. Dabei holte er sich eine Lungenentzündung und starb. Die Mutter mit ihren fünf Kindern bekam eine Jahrespension von 180 Talern. Deshalb verdiente ihr Sohn Rudolf noch durch seine Malerei Geld dazu. Er kopierte Bilder für einen Maler von allerlei berühmten Malern. Dieser verkaufte sie dann über den Direktor der Kunstakademie als seine eigenen Originalkopien. Auch für sich kopierte Opa Bilder.

Drei davon hatte meines Vaters Schwester Berta (Jordan). Als der Opa also das Haus in Marburg baute, zog da eine junge Witwe ein. Sie hatte auch all ihre Kinder ganz klein verloren. Sie befreundeten sich und Opa half ihr mit Begeisterung, die Wohnung einzurichten und Bilder aufzuhängen. Sie heirateten (Selma Fenner, geb. Ranke).

Über das Haus gibt’s noch eine Geschichte. Opa hatte es zwar alleine entworfen, wie später noch mehrere seiner Häuser, die er dann immer verkaufte; und auch viele seiner Möbel entwarf er selbst und bemalte sie zum Teil. Ja, also der Architekt des Hauses war ein Professor Schäfer aus Marburg. Bei ihm hatte dann später mein ältester Bruder Rudi Zeichenunterricht. Der Professor Schäfer baute auch gerade die preußische Universität Marburg und war Opas Freund. Opa wollte in seinem Haus zwischen den Fenstern die Säulen aus Schiefer bauen lassen, dass es schwarz aussah und abstach. (Er hatte an allen seinen Häusern Säulen, Pergolas, Balkons jede Menge, Erker und je einen großen, selbst entworfenen Springbrunnen daneben).

Pfingsten 1927, Selmas ältester Bruder Rudi in Marburg an Opas (Rudolf Fenner) Brunnen.

Der Professor Schäfer war sehr nachlässig und der Schiefer kam nicht. So wollte er Ziegel nehmen. Opa wollte nicht; er ließ die Säulen, ganz übermodern, aus Eisen bauen. Fünfzig Jahre später, machte Professor Weber, Papas Lehrer in Danzig, wo er Architektur studierte, mit seinen Schülern einen architektonischen Ausflug durch Brandenburg, durch das ganze Land bis Heidelberg und Straßburg. Weber bezahlte alles. Er zeigte auch seinen ungefähr dreißig Schülern die tolle Sache in Marburg, die Eisensäulen, und lobte den Professor Schäfer wegen seiner genialen Idee. Da sagte mein Papa: „Nee, das hat mein Vater ganz alleine machen lassen.“ Professor Schäfer verbummelte noch mehr in Marburg und er soll sehr leichtsinnig gewesen sein. Zum Beispiel hatte er auch von der Stadt den Auftrag, auf einem Berg einen Aussichtsturm zu bauen, kümmerte sich aber nicht weiter drum. Der Bauunternehmer verschluderte die Arbeiten und nichts wurde richtig gemacht. Der Turm wuchs. Eines Morgens guckte Frau Schäfer aus dem Fenster, wurde blass und sagte: „Mann, der Turm ist weg!“ Er war eingefallen. Professor Schäfer fuhr flugs mit seiner Frau einige Zeit weg und als er nach einiger Zeit zurückkam und man die Sprache auf den Turm brachte, sagte er: „Ach, die alte Geschichte.“ Das war nach dem Krieg 1870.

Nach Fronhausen zogen die Fenners mit ihren vier Kindern nach Hersfeld. Hier wurde Papa geboren. Die Familie hatte, wie fast immer, zuerst keine passende Wohnung und Opa ließ sofort anfangen, nach seinem Entwurf ein Haus zu bauen.

Geburtshaus von Papa (Ernst fenner) in Hersfeld (jetzt, 1995, Altersheim. Mit Rolf und Gernot.

So lange wohnten sie in einer Gastwirtschaft nahe der Stadtkirche. Der stolze Wirt ließ den Saal als Wohnung umbauen und dazu kam noch eine daran angrenzende Wohnung eines Schornsteinfegers. Hier wohnte die Familie, bis das Haus am Stadtgraben fertig war. Die Stadt hatte dort Grundstücke vergeben. Dazu musste erst die alte Stadtmauer abgerissen werden. Die paar Häuser stehen deshalb dort so hoch, weil sie auf der abgerissenen Stadtmauer gebaut wurden. Mein Großvater pflanzte dort zu Papas Geburt eine Eiche, die noch steht. Das Haus ist Altenheim, und ich war mal mit meinen Eltern dort und habe Fotos gemacht. Beim Grundstückverkauf gab’s viel Ärger, weil Opa es fertigbrachte, ein weit größeres Grundstück zu ergattern als andere Leute. Wohnen tat auf der anderen Seite, Garten an Garten, aber schon Professor Conrad Duden mit seiner großen Familie. Opa und Duden freundeten sich an. Duden, mit seinen fünf Kindern, war Lehrer und Direktor vom nahe gelegenen Gymnasium. Die Schule nebst ganzer Umgebung gehörte zum ehemaligen Kloster.

Opa und Duden genügten sich mit ihren Interessen vollkommen und hatten sonst keine näheren Bekannten. Dann kam der Bruder von Duden nach Hersfeld. Er sah die gutgehenden Stoffabriken um die Stadt herum und wollte alles noch besser machen. Er kaufte eine Fabrik und C. Duden bürgte für ihn. Schon nach einem Jahr war der Bruder pleite und Duden musste jahrelang auch noch die Schulden seines Bruders bezahlen. (Was aus dem wurde, weiß ich nicht.) Aus dieser Not heraus kam Duden auf die Idee, seinen aus Interesse jahrelang angelegten Zettelkasten der gesamten Wörter zu verwerten und daraus ein Wörterbuch zu machen. Dies war dann das erste deutsche Wörterbuch.

Die Eltern von meinem Vater zogen dann nach Kassel, nachdem Großvater sein Hersfelder Haus, stets mit enormem Gewinn, später auch noch ein weiteres Haus in Marburg, verkauft hatte und an der Hermannstraße 1, Ecke Wilhelmshöher Allee, ein neues Haus bauen ließ. Sie zogen nach Kassel, wo Opa dann am Oberlandesgericht war, weil die Oma das unbedingt wollte. Erstens gab’s da für ihren jüngsten Sohn bessere Gymnasien, aber zweitens gab’s bessere Heiratsbedingungen für ihre drei Töchter Berta, Oda und Munni (Mathilde). Der zweite Sohn Karl wollte Richter werden, war Assessor in Großalmerode und starb, noch nicht dreißig und ledig, an einer Blinddarmoperation.

Es klappte nicht mit den Umzugswagen, als das Haus endlich fertig war. Die Familie wohnte daher erst am Königsplatz im „König von Preußen“ und dann am Ständeplatz 2, Ecke Hohenzollernstraße. Nebenan wohnte eine Familie Hocke, deren Vater Direktor der Zuckerfabrik Wabern war. Als mein Vater und Herr Conrad Hocke alt waren, wohnten beide wieder in Kassel und trafen sich oft. Herr Hocke erzählte mir immer, wie fortschrittlich die Fenners gewesen wären. Die Mutter meines Vaters wäre „ohne Hut“ aus dem Haus gegangen, was damals eigentlich unmöglich war. Ebenso rief sie mit lauter Stimme ihre Kinder auf dem Ständeplatz zusammen, was man als Dame auch nicht tun durfte.

Mein Großvater nahm seinen Sohn (meinen Vater) überall mit hin. Sie suchten auch zusammen die Hermannstr. 1 aus. Opa musste oft nach Marburg, wegen seinem Ländereienverkauf. Da fuhr mein Vater oft mit. Auch liefen die beiden zusammen zu Gerichtsverhandlungen weit auf die Dörfer. Mein Vater bekam ein Blatt Papier zum Malen, während im selben Zimmer sein Vater einen Übeltäter innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten oder meist noch kürzer zu einer Strafe verdonnerte. Mein Vater erzählte, die Übeltäter hatten nie darauf etwas einzuwenden! Dann nahm Opa seinen Sohn wieder an der Hand und sie spazierten einträchtig und zufrieden heim. Auf diesen Reisen und „Spaziergängen“ machte mein Großvater unendlich viele Rötel- und Bleistiftzeichnungen von kleinen Orten, Tieren, hessischen Bauern und auch von seinen Kindern. Er legte Malbücher an, die mein Vater abmalen sollte. Er machte sämtliche Hefte selbst, wie auch unser Vater uns Kindern. Bis wir uns energisch wehrten, weil die Hefte immer das falsche Format hatten (schmaler), denn auch er benutzte noch das viele übrige Büttenpapier von seinem Onkel. In den Ferien musste mein Vater, weil er so schlecht in der Schule war (er wurde bis zum Gymnasium-Eintritt privat unterrichtet), nebenbei Latein, Französisch und Griechisch üben. Sein Vater machte ihm wieder Hefte und malte und schrieb (zur Ermunterung) auf den Umschlägen allerlei humorige Sachen. Opa hat auch viele Witze und so weiter neben seine Zeichnungen geschrieben. Mein Vater fand das aber nicht humorig und schmierte das Verlangte nur so in die Hefte. Er blieb trotzdem zweimal sitzen. Diese Umschläge hat sich mein Vater zum Teil aufgehoben und ich habe sie an Euch drei verteilt: Wieland, Rolf, Gernot. Es teilt sich aber leider in der großen Familie sehr auf. Ich habe aber noch allerlei davon.

Als mein Vater dann endlich sein Abitur hatte, verkaufte der Großvater sofort das Haus Hermannstr. 1 (es wurde im Zweiten Weltkrieg weggebombt) und baute in Marburg an der Calvinstraße 2 ein neues pompöses, aber sehr stabiles Haus. Er war nie gerne in Kassel gewesen. Die Oma wollte immer große Gesellschaften geben, und sie hatten auch ganz enorm wunderschönes Geschirr und Personal, aber der Opa wollte nicht. Er lief immer einfach angezogen rum (war etwas kleiner als Oma) und daheim latschte er in ganz altem Zeugs rum und fuhrwerkte viel oben im großen Obstgarten (wo aber auch in einem sogenannten Gartenhaus, ein hübsches kleines, richtiges Haus, sein Gärtner nebst Frau wohnte). Einmal kam ein neuer Gerichtsreferendar in den Garten und fragte den „Gärtner“, wie er den Richter anreden sollte, der ihn hinbestellt hatte. „Sagen Sie einfach Fenner“ antwortete Opa.

Als er jung war, wollte unbedingt seine Schwester Henriette von ihm gezeichnet werden. Das liebte er nicht. Er machte Zufallszeichnungen. Also er machte mit ihr ein paar Tage „Sitzungen“ und zeigte das Bild erst zum Schluss. Es war eine Gans. Die Schwester war tief beleidigt. Opas Schwägerin, Edda Hitzig, hatte ja keine Kinder. Sie war so vornehm, wie meine Großmutter praktisch war. Ihr Mann, Eduard Hitzig, war Professor der Psychiatrie in Berlin und dann an der Uni Halle. Dort wurde zu seiner Erinnerung, als er starb, 1907, in der Klinik eine pompöse Büste von ihm aufgestellt. Tante Edda erfuhr dann später, dass die Büste wegkommen sollte, weil Hitzig Jude war. Sie versuchte, das zu verhindern, aber der Direktor wollte nur für sich persönlich den Marmorsockel haben.

Mein Vater studierte also auch in Danzig, wo er meine Mutter kennenlernte. Sein Professor war Herr Weber. Als erste Stellung ging mein Vater als Assistent mit Weber nach Hannover an die Uni. Als Papas Eltern zu Besuch kamen und Weber eingeladen wurde, stellte man fest, dass sie miteinander verwandt waren. Der Großvater richtete seinem Sohn am Anfang die jeweiligen Wohnungen ein und mietete sie auch, selbst ausgesucht, an. Das machte ihm halt ungeheuren Spaß und er hatte Geld und Zeit. Er unterstützte meine Eltern, bis 1920 meine Schwester in Makkenrode geboren wurde. Ab da war er zwar weiterhin großzügig, aber eben nicht laufend. Er, der das ganze Leben so schlau gewesen war, ließ sich kurz vor seinem Tod auf ein todsicheres Geldgeschäft mit einem ihm gut bekannten Juden ein. Er verlor den größten Teil seines Vermögens. Großvater starb 1928, Großmama 1944, ihre Schwester 1940, deren Mann 1907. So, meine Zettel sind alle und ich kann sie wegschmeißen.