Reisen zur Großmutter

Foto Selmas Fenner, geb Ranke, Gemälde fotografiert von 1957 von Rudolf Sauer

Selma Ranke (16 Jahre) in München 1860, gemalt von Selmas Bruder Karl Fenner

Die Fotografie aus dem Jahr 1860, nach der das Bild gemalt wurde.

19. Februar 76

Reisen zur Großmutter

Obwohl meine Eltern mit uns viele weite Spaziergänge und Wanderungen unternahmen, zu denen manchmal auch per Bahn angereist wurde, machten sie nie eine Ferienfahrt mit uns. Der Hauptgrund wird gewesen sein, dass sie kein Geld hatten, standesgemäß mit uns zu verreisen, und anders ging’s eben nicht, dachten sie. Zum anderen hatten wir ja zwei große Gärten und gerade in der Ferienzeit wurden die vielen Beeren reif. Als drittes Handikap war da mein jüngster Bruder Gottfried, der unausgesetzt Pflege brauchte. Aber von Zeit zu Zeit fuhr unser Vater mit seinen drei größeren Kindern zur Großmutter nach Marburg, wo eine Zeitlang auch unser ältester Bruder Medizin studierte.

Selma Fenner, geb. Ranke, verwitwete Carius

Papa hatte uns Kindern je ein winziges Köfferchen gekauft und der älteren Schwester einen etwas größeren. Aber die Hauptsache des Gepäcks schleppte mein Vater in seinem sehr großen Pappkoffer. Glücklich sagten wir unserer Mutter, dem kleinen Bruder und der Rosa, unserer langjährigen Hilfe, Adieu und fuhren ab. Es gab damals noch vier Klassen. Vater kaufte zwar 3. Klasse, aber wenn ein Abteil 4. Klasse ganz leer war, stieg er lieber dort mit uns ein. Draußen stand am Wagen später immer dran: Reisende mit Traglasten. Rings um die Wände des Waggons standen Holzbänke ohne Lehnen, einige Lederriemen hingen von der Decke herab, dass die stehende Leute sich daran festhalten konnten, denn außer den Bänken war der Platz für Gepäck aller Art gedacht. Ich weiß noch, dass das Erste, was wir machten, das sofortige Frühstück war. Glücklich kauend saßen wir auf den Bänken und sahen die Landschaft an uns vorbeischleichen. Dann aber begannen wir zu spielen. Mit einem gekonnten Hechtsprung von den Bänken aus erreichten wir die Lederriemen mit Knoten unten dran. Daran ließ sich wunderbar schaukeln. Mein Vater sagte nie etwas. Er hatte sich eine Zeitung gekauft und vertiefte sich während der Fahrt darin.

Auch später stieg ich gerne in diese Waggons, wo Bauersfrauen und Männer mit Körben, gefüllt mit Eiern, Schmand, Obst und auch lebendem Kleinvieh, zustiegen, die auf den Markt der Kleinstädte fuhren oder ihre Stammkunden belieferten. Die Unterhaltung war stets recht laut und rege. Still saß ich auf meiner Bank und hörte zu.

Wir mussten recht bald vom Bummelzug in einen weiteren umsteigen und von dort in Kürze noch mal. Dann saßen wir in der Strecke nach Kassel. An den Bahnhöfen stieg Vater oft aus und holte uns Kindern etwas zu trinken, und wir hatten stets große Angst, dass der den Zug nicht erreicht. Er kam aber immer in letzter Sekunde angehetzt. Nur einmal verpasste er die Abfahrt, aber damals hielt der Zug eben noch mal. Ich erinnere mich, dass mein Bruder Karl einmal beim ganz schnellen Umsteigen noch im alten Zug stand, als der schon abfuhr. Er brüllte fürchterlich – und der Zug stoppte noch mal.

In Kassel, hier ging mein Vater früher auf das Gymnasium, ehe seine Eltern nach dem Schulende nach Marburg zogen, stiegen wir aus. Als erstes marschierten wir zu Woolworth und bekamen jeder ein etwas größeres Pappköfferchen gekauft. Das alte, meist schon sehr demoliert, wurde diskret in einen Papierkorb geschmissen. Im Laufe der Jahre wuchs auch die Größe des Koffers, aber bis zu einem ganz großen haben wir‘s infolge der wenigen Reisen nicht geschafft. Als Nächstes wollten wir Kinder nur in den Geschäften herumlaufen und gucken. Mein Vater ließ sich nie darauf ein. Ständig ging oder fuhr er mit uns in Museen in der Stadt, auf das Schloss, nach Wilhelmstal. Wir kletterten bis zum Herkules hinauf und guckten ganz oben am Herkules durch ein Fensterchen auf die Stadt. Die einzige Erinnerung, die uns zum Leidwesen meines Vaters blieb, waren die großen Filzpantoffeln, die wir in den Museen anziehen mussten, die riesengroßen Kronleuchter dort und das Oktagon unter dem Herkules. Hier standen wir in einem halboffenen Gewölbe und bestaunten die Figuren darin. Wenn jemand zehn Pfennig in eine Box warf, spritzten dünne Wasserdüsen vom Fußboden, der Wand und der Becken vor den Figuren. Man musste spurten, um nicht zu nass zu werden. Wenn wir nun schon herumkraxeln mussten, wollten wir auch immer dorthin. Es ist jetzt noch vorhanden, nur muss man fünfzig Pfennig einwerfen. Kneipptretbecken gab’s im Park Wilhelmshöhe, die wir natürlich auch barfuß durchwaten mussten. Wir liefen bis Wilhelmstal, und das ist eine enorme Strecke.

Gegen Abend bestiegen wir wieder todmüde einen Zug und fuhren weiter bis zur Großmutter nach Marburg an den Rothenberg zur Calvinstraße 2. Dazu mussten wir die ganze Stadt durchqueren, vorbei am Rathaus mit seinem damals schon flügellahmen Hahn über der Uhr und seinem kümmerlichen „Kiekeriki“. Omas Haus, vollständig entworfen von meinem Großvater, war ein mächtiger Backsteinbau mit vielen Balkons, Loggien und Terrassen. Einen großen Garten gab’s mit herrlichem großem Springbrunnen (entworfen von Großvater, wie überall bei seinen selbst entworfenen Häusern), Walnussbäumen, Pfirsichen, die immer gerade reif waren, Kirschen und so weiter. Etwas abseits die große stabile Waschküche und der Schuppen. Großmutter war damals schon recht alt. Sie wurde 99 Jahre alt. Sie trug noch Reifröcke, war die Tochter von Ernst Ranke, dem jüngsten Bruder des Leopold von Ranke. Leopold und ein weiterer Neffe, Heinrich, wurden geadelt.

Wir bekamen vor der Haustür nochmals zugeflüstert, dass wir Großmutter zum Empfang einen Kuss zu geben hätten, und es kostete uns erhebliche Überwindung, diesen Kuss auf das runzlige Gesicht zu drücken, weil sie uns ja recht unbekannt war. Sie hatte in zweiter Ehe, der erste Mann und zwei Kindern starben, den Richter des Oberlandgerichts Hessen, Rudolf Fenner, geheiratet und bekam fünf Kinder von ihm. Sie war ein bissle größer als Opa. Mein Vater war der Nachzügler. Die Kinder hatten, neben ihrer jeweiligen Amme, noch weiteres Personal zur Verfügung.

Papa wurde, bis er aufs Gymnasium kam, von Privatlehrern unterrichtet. Er ging oft mit seinem Papa (er starb als ich zwei Jahre alt war) zum Gericht, auch weit auf die Dörfer, der dort in Windeseile seine Gerichtsverhandlungen abhielt und nebenbei unausgesetzt Skizzen anfertigte. Opas Haupthobby war das Malen. Hiermit verbrachte er viel Zeit, und mit seiner liebevollen Gartenarbeit. Er hatte einen ganzen Berg am Sandweg gekauft. Er zeichnete meist mit Rötel und unendlich viele Mappen mit Bildern seiner Kinder, Tiere, von Landleuten und Landschaften sind von ihm erhalten, und die Nachfahren, weit verstreut, haben sämtlich seine Bilder an den Wänden hängen. Auch mein Vater bekam Zeichenunterricht und konnte herrlich malen, meist aber in Richtung seines Bauberufs, nämlich Kirchen und ähnliches. Meine Brüder Rudi und Karl sind ebenfalls Experten darin. Rudi zeichnete überwiegend Karikaturen, der Jüngere, Karl, Porträts und Blumen. Großvater baute stets, wo er hinzog, ein oder zwei neue Häuser nach seinem Entwurf und verkaufte diese immer mit großem Gewinn. In Kassel wohnten sie Hermannstr. 1 an der Wilhelmshöher Allee.

Nun waren wir also bei Großmutter zu Besuch. Wir wurden von ihr über Schule und so weiter befragt. Dann durften wir nach dem Abendessen, sie hatte nur noch ein Mädchen, ins Bett gehen. Wir waren todmüde und froh, im Bett zu liegen. Ich war Bettnässer bis zwölf Jahre, wo es abrupt mit meiner Periode aufhörte. Papa musste also immer ein großes Gummi fürs Bett und viele Ersatzsachen für mich dabeihaben.

Großmutter trug zwar nicht mehr ihre Krinoline, aber sie war für uns Kinder doch recht staunenswert bekleidet. Sie trug stets dunkle wallende Kleider. An Ärmeln und Brust reichlich Spitze und meist einen Stehkragen, auch oft mit Rüschen besetzt. Am Gürtel hatte sie einen Schlüsselbund hängen, mit dem sie zum Beispiel ihren großen Wohnzimmerschrank (das ganze Zimmer von Großvater entworfen und bemalt; jetzt hat es mein Großcousin Rudolf Sauer) öffnen konnte.. Hierin stand das Schlüsselkörbchen mit einer unendlichen Zahl Schlüsseln. Jede Schublade und jedes Fach ihrer Wohnung waren abgeschlossen, sie wusste aber schnell und sofort, welcher Schlüssel wohin gehörte. Die Prozedur mit dem Schlüsselkörbchen beeindruckte uns sehr. Ab und zu bekamen wir mal ein Stück Konfekt geschenkt; da war unsere Mutter, wenn auch nicht gerade verschwenderisch, immerhin weit großzügiger. Wir spielten gerne in dem großen Garten herum. (Später, nach dem Verkauf etwa 1954/55, standen neben dem Altbau noch drei Häuser darin.)

Aber meist setzte sich die Zeit der endlosen Spaziergänge und Wanderungen fort, weil mein Vater die Großmutter nicht zu sehr mit uns belasten wollte. Wir liefen unendlich lange Touren nach dem Frauenberg und in jede Richtung Marburgs. Mein Vater voller Jünglingserinnerungen, wir teilnahmslos hinterher. Meist aber wurde die Sache dann doch durch irgendetwas interessant für uns, denn mein Vater wusste immer ein schönes Ziel für seine Kinder.

Ich hatte damals gerade meine ersten Schwimmzüge probiert, und mein großer Bruder Rudolf (zwölf Jahre älter), dessen Semesterferien noch nicht angefangen hatten, versprach mir einen Groschen, wenn ich durch das Schwimmbecken neben der Lahn im Schwimmbad schwimmen würde. Die zehn Pfennig lockten sehr, und ich konnte es gar nicht erwarten, wann wir nun endlich gingen. Mein Vater war da schon kein großer Schwimmer mehr und er ging nur uns zuliebe mit in die Bäder. Er schwamm einmal in seiner kleinen roten Dreieckshose aus der Jugendzeit durch das Becken und wartete draußen, bis wir uns ausgetobt hatten. Auf dem Ufer zum Lahnschwimmbad spielten Karl und ich Kriegen. Ich lief vorneweg über eine Holzbrücke. Plötzlich brach ich mit dem gesamten rechten Bein in ein Loch der defekten Brückenbohlen und schrammte mir es von oben bis unten auf. Ein gewaltiger Bluterguss entstand und nach kurzer Zeit lief das Bein rot und blau an. Es tat sehr weh, aber den Groschen wollte ich verdienen und schwamm trotzdem durch das ganze Becken und konnte anschließend kaum den weiten Weg nach Hause laufen. Mein Vater und Bruder trugen mich abwechselnd. Vorher aber bekam ich den Groschen und von Papa noch einen dazu. Außerdem kaufte er uns allen ein Eis. Damals gab’s nur das lose Tüteneis, und auch das recht selten. Mein Vater war strikt dagegen und so war es eine außergewöhnliche Gunst, dieser Eiskauf.

Die Möbel von Großmutter waren also meist von Großvater entworfen oder von Schloss Lich ersteigert, weil der Fürst sich Mitte des 19. Jahrhunderts lauter neue Möbel kaufte. Großmutter saß meist am Fenster und las mit einer Lupe englische oder französische Bücher oder sie strickte irgendwas. Mal las sie, mit 93, dass jemand seinen 75. Geburtstag in geistiger und körperlicher Frische beginge. „So was Blödes“, sagte sie, „könnte mein Sohn sein.“ Sie war meine Patentante, und aus diesem Grund bekam ich zu jedem Fest von ihr einen silbernen Löffel oder ähnliches geschenkt. Ich war jedesmal wieder von neuem enttäuscht. Sonst bekamen wir nichts von ihr. Aber meine Eltern bekamen immer von ihr Geld, dass sie uns Anziehsachen kaufen sollten, was sie auch taten (wenn’s nötig war). Sie sagten uns aber komischerweise nie, dass das von Oma sei.

Neben der Großmutter wohnte ihre Schwester Edda in einem noch größeren Haus. Auch von Großvater entworfen nebst angebautem großen Dienerhaus. Sie war die Frau von Professor Eduard Hitzig, einem Juden, dessen Büste in der Berliner Universität stand. Auch in Halle/Saale. Kinder hatten die beiden nicht. Edda war eine von oben bis unten gepflegte Frau. Sie trug vorwiegend auch dunkle, bis zum Boden reichende Kleider, aber aus Spitze und Seide, die so leicht war, dass sich die Röcke beim Gehen im Zeitlupentempo hoben und senkten. Die große Eingangshalle nebst breiter Treppe war aus Marmor und wir Kinder verfielen dort immer ins Flüstern. Am interessantesten fanden wir aber eine sechseckige Gartenlaube im Garten, die auf Schienen lief und, von Dienern geschoben, in jede Ecke des Gartens geschoben werden konnte.

Selma Fenner, geb. Ranke (rechts), mit ihrer älteren Schwester Edda Hitzig

Wir mussten auch der Tante immer guten Tag sagen. Sie war damals schon schwerhörig und ein Mädchen stand dabei und schrie ihr ständig die Antworten von uns ins Ohr. Sie begutachtete uns wohlwollend, auch unseren Vater, wir bekamen jeder eine silberne Gabel oder ähnliche sinnige Geschenke überreicht, und damit war der Besuch beendet. Ich hätte so gerne mal ihr gesamtes Haus besichtigt nebst dem kleinen Dienerhaus nebenan, aber leider habe ich nie gewagt zu fragen.

Im Krieg besuchten meine Schwester und ich noch mal eine Woche unsere Großmutter. Wir machten uns mit dem Hausmädchen den nun stillgelegten Springbrunnen im Garten wieder sauber und flott und badeten alle drei abends darin. Großmutter ging sehr früh ins Bett in der letzten Zeit, und so hatten wir lange Abende für uns und nutzten sie weidlich, nichts als Quatsch zu machen.

Eines Tages sagte Großmutter, dass wir nebenan ins Zimmer gehen und uns jeder im kleinen Bücherschrank ein Buch „Fliegende Blätter“ nehmen sollten, wovon mein Vater schon viele Bände daheim hatte. Wir beide suchten und suchten, aber nichts dergleichen war mehr da, und wir schämten uns, es Großmutter zu sagen. Als sie fragte: „Habt ihr‘s?“, sagten wir einfach Ja. Das war das einzige Geschenk in den Ferien und auch damit wurde es also nichts. Auf unerklärliche Weise verschwanden so langsam fast alle Sachen bei der Großmutter. Sie konnte nicht mehr laufen und wurde nur noch vom Bett zum Sofa und von dort zum Sessel geführt, und da fiel überhaupt nicht auf, was verschwand. Wir beide aber waren noch zu dumm, irgendwas mitzunehmen.