Die Deutsche Reichsbahn

Schmalkalden, 13. Februar 76

Die Deutsche Reichsbahn (S. 16 MS)

Anmerkung von Wieland Giebel Februar 2021:

Der Zug mir dem Obstkorb kam mit der Anhalter Bahn zum Expressgutgleis des Anhalter Bahnhofs an der Ecke Möckernstraße/Hallesche Straße, heute gegenüber vom Crowne Plaza Berlin Hotel Potsdamer Platz, etwa wo sich das Liquidrom befindet. Von dort wurde direkt in Kutschen umgeladen, ausgefahren, so dass Tante Alma das Obst aus Schmalkalden am Nachmittag in Neukölln in der Heidelberger Straße empfangen konnte. Same day delivery damals. Man kann das am Modell des Anhalter Bahnhofs im Deutschen Technikmuseum ganz gut erkennen.

Als Kind war mir gar nicht bewusst, was für eine Rarität unser kleines Kreisstädtchen Schmalkalden, circa 12 000 Einwohner damals, hatte. Der Kreis Schmalkalden hatte eine weitere Rarität, nämlich der Kreis gehörte, obwohl mitten in Thüringen, im Regierungsbezirk Kassel, also zu Hessen. Erst zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 kam der Kreis zu Thüringen und Kreisstadt wurde das hässliche Suhl. Nach der Wende 1989 kämpfte ein großer Teil des Kreises, wieder hessisch zu werden. Nee!!

Ich will aber von der ersten Rarität erzählen. Wir hatten nämlich drei Bahnhöfe: den Hauptbahnhof, wo man umsteigen konnte, das „Stillertor“, worüber die Bahn (mit Kohle geheizt) weiter in Richtung Zella-Mehlis fuhr, und das „Reiherstor“, eine kleine Nebenstrecke hinauf nach Brotterode am Inselsberg. Über Zella-Mehlis liegt der Luftkurort Oberhof. Wenn wir dort oder in Brotterode im Winter wanderten oder Ski fuhren, guckten wir den Profi-Skispringern zu. Dort fuhren und sprangen schon die ganz kleinen Kinder recht geschickt auf ihren winzigen Skiern. Aus diesen Orten kamen deshalb auch damals viele Olympiasieger. Brotterode verlor seine Asse, Oberhof aber ist geblieben.

Jetzt wieder die Reichsbahn: Die Hauptstrecke fuhr uns von Eisenach nach Meiningen. Etwa in der Mitte mussten wir in Wernshausen in den Bummelzug nach Schmalkalden umsteigen. Sämtliche Züge waren stets ganz rußig, weil ja die Dampflok mit Kohle angeheizt wurde und der Schornstein schwarze Wolken ausstieß. Auch wenn die Fenster zu waren, verteilte sich der Ruß in den Abteilen. Der Bummelzug schlich die Strecke Wernshausen, wo die Werra fließt, Zella-Mehlis, und, glaube ich, noch ein Stück weiter. Nach etwa sechs Kilometern erreichten wir Schmalkalden. Dazu mussten wir aber Geduld haben. Alle paar Meter hielt er an einem winzigen Bahnhof. Niederschmalkalden, Mittelschmalkalden, Auehütte. Die Züge waren immer gut besetzt, denn es war eben fast das einzige Verkehrsmittel. Dann kam Schmalkalden. Wir guckten, ob schon jemand hinter der Sperre stand, der uns abholen wollte. Man konnte nicht einfach auf den Bahnsteig gehen und dem Ankömmling helfen. Dazu musste der Wartende eine Bahnsteigkarte für zehn Pfennig kaufen. Meist wurde das aber gespart. So war es auf allen Bahnhöfen. An der Sperre sammelte der Schaffner die Fahrkarten ein. Die anderen Fahrgäste konnten also sitzen bleiben und über Steinbahn, Hallenberg und Viernau weiterfahren, Oder man stieg in den noch kümmerlicheren Bummelzug über den Bahnhof Reiherstor, Floh-Seligenthal, Hohleborn, Kleinschmalkalden hinauf nach Brotterode. In Floh-Seligenthal wurde noch eine Lok drangehängt, weil es jetzt steil aufwärts ging, und die Lok bekam durch ein großes Rohr Wasser. Das Rangieren musste man an vielen Bahnhöfen über sich ergehen lassen. In Wernshausen zum Beispiel lag der Bahnhof ganz dicht neben einer Hauptstraße. Musste nun unser Zug umrangiert werden (der Zug nach Schmalkalden, in Wernshausen Endstation), ging die Schranke an der Straße runter. Das Rangieren dauerte seine Zeit und so lange standen alle Verkehrsteilnehmer geduldig vor der Schranke. Das geschah ja viele Male am Tag und genau so oft passierten die Züge Eisenach-Meiningen die Schranke. Unser Zug überfuhr gleich nach der Abfahrt die Werra. Hier schwammen wir recht oft drin. Entweder liefen wir die sechs bis sieben Kilometer oder später fuhren wir auf unseren alt erstandenen klapprigen Fahrrädern dorthin. Wir mussten in puncto Fahrradreparatur schon recht firm sein und immer alles dabeihaben.

Ja also, die Fahrt nach Brotterode. Ab Floh-Seligenthal ging der Zug immer etwas bergauf. Hingen hinten noch Güterwagen dran, dann schaffte eine Lokomotive die Fahrt nicht. So wurde noch hinten an den Zug eine Lok gehängt zum Schieben. Neue Kohle wurde in den Tender geschippt und, besonders, Wasser wurde in die Dampflok durch ein großes Rohr gegossen. War mal zu viel Kohle in den Kessel geschippt, gab’s da zu viel Druck, weil das Wasser fast kochte. Dann wurde der Wasserdampf oben auf der Lok mit lautem Zischen etwas abgelassen. Der Heizer hatte sehr zu schuften und schippte unentwegt Kohle in die Feuerung. Von Zeit zu Zeit sah man ihn aus dem kleinen Tenderfenster ganz erschöpft und rußig rausgucken. Der Zug fuhr durch eine wunderschöne Landschaft. Vielmehr, er zuckelte hinauf. Später wurde eine Strecke aufgegeben und durch Busse ersetzt, die die Strecke über unendlich viele kleine Serpentinen schneller bewältigten, das heißt, falls er unterwegs nicht irgendwie kaputt ging, was oft der Fall war. Kurz nach dem Krieg fuhren die Busse und Laster ja noch mit Holzantrieb. Praktisch dasselbe System wie in der Lok, nur musste man nicht dauernd nachlegen. Die Kessel standen hinten auf der Ladefläche. Als ich 1944 bis 1946 auf dem Schmalkaldener Arbeitsamt arbeitete, wohnte über uns im Haus ein Mann, der solch einen Laster besaß. Ganz früh morgens ging er erst mal runter und heizte gleich hinterm Führerhaus auf der Ladefläche seinen Holzofen an, dass der erst mal richtige Hitze bekam, bevor er abfahren konnte.

Aber die meisten Güter wurden damals, als ich Kind war, mit dem Zug befördert. Es gab ja erst wenig Autos oder Motorräder, sogar wenig Fahrräder. Im Zug gab’s 1. Klasse, 2. und 3. Klasse und sogar 4. Klasse. In dieser Klasse, die billigste, waren nur ringsherum schmale Holzbänke angebracht worden. Die ganze Mitte war frei für Körbe, Kiepen und Kisten und so weiter für die Bauern, die ihre Waren, auch lebendes Geflügel, auf den Markt in die Stadt fuhren. Es roch dadurch immer recht streng darin. Wollten wir irgendwelche Sachen wegschicken, taten wie das wie alle Leute mit der Post. Sollte es aber schnell gehen, dann schickten wir alles per „express“ mit der Bahn. Das funktionierte immer ganz einwandfrei und sehr schnell.

Man konnte die Expressgüter durch ein Pferdefuhrwerk abholen lassen oder man brachte die Dinge selbst zum Bahnhof. Meine Eltern schickten jeden Herbst meiner Tante Alma, Mutters Schwester, nach Berlin mehrere große Obstkörbe mit Äpfeln, Birnen, Zwetschen. Mein Vater nähte mit einer großen Krummnadel ein Sacktuch über das nur einwandfreie Obst. Wir brachten sie mit unserem Leiterwägelchen zum Bahnhof und am nächsten Morgen hatte meine Tante garantiert den Korb. Sie musste ihn ebenfalls mit einem Wägelchen abholen. Außerdem war Bahnexpress weit billiger als die Post.

Früher kam der Briefträger zweimal am Tag und zu Großmutters Zeiten dreimal. Man schrieb eben viel mehr, weil es ja noch kein Telefon oder ähnliches gab. Wollte man, dass spät abends noch ein wichtiger Brief befördert werden sollte, lief man nicht zur Post, sondern gleich zur Bahn, wo er während der Fahrt sofort in die passenden Säcke sortiert wurde. Diesen Weg lief ich abends viele Male mit meinem Vater. Ich nehme heute an, dass er nur noch mal stramm laufen wollte, denn wir mussten die ganze Stadt durchqueren.

Die Zugverbindungen der Reichbahn klappten stets sehr gut. Es gab ja auch viel weniger Züge. Die Auskunftsleute saßen mit verschränkten Armen hinter dem Schalter und konnten stets die Verbindungen auswendig erklären. Man schrieb es sich auf einen Zettel. Nur zum Ende des Zweiten Weltkrieges und danach hinkte diese Verbindung, denn die Züge wurden an der Front nötiger gebraucht. So geschah es öfter, dass die Reisenden irgendwo in einem winzigen, immer eiskalten Wartesaal herumhockten und warteten, bis mal ein Zug kam. War’s nicht zu weit, heimzulaufen, so machte man sich, meist mit anderen, auf, die Strecke zu Fuß mitsamt Koffer zu bewältigen. Das war besonders im Winter und nachts unangenehm. Man wagte ja nicht, sein Reisegepäck „aufzugeben“ am Bahnhof, falls überhaupt mal ein Beamter da war. Von Wernshausen liefen wir circa sechs Kilometer heim. Einmal aber musste ich von Zella-Mehlis aus laufen, mindestens zwanzig Kilometer über die Berge. Das tat ich nie wieder.

Recht bald funktionierte aber die Zugverbindung nach dem Krieg wieder. So ganz allmählich wurden auch die Dampfloks in Dieselloks umgetauscht. Bei den kleinen Nebenstrecken dauerte das aber noch sehr lange.