Meine Geschwister

Fotos S 43, Mama, Pappa, Rudi

Hierher gehört auch das Foto aus Glaz, weiter oben irgendwo

26. Februar 76

Geschwister

Superkinder hatten meine Eltern nicht, aber gesund waren wir, bis auf den Jüngsten. Er bekam mit zwei Jahren Gehirnhautentzündung, und da es damals noch kein Penizillin gab, starben die meisten Kinder daran. Unser Gottfried war nicht darunter und lebte, gelähmt und ohne Verstand, noch sechzehn Jahre.

Er hatte wunderschöne kupferrote Kringellocken. Das Gesicht hatte keinen dummen Ausdruck und er wuchs auf die normale Größe heran. Zuerst konnte er noch ein paar Brocken sprechen, verlernte aber auch das bald und lallte nur noch. Die Familie wusste genau an seinen Tönen zu unterscheiden, ob er traurig oder fröhlich war. Meist aber war er fröhlich. Er kannte das Leben ja nichts anders. Irgendjemand der Familie oder unsere Rosa führten ihn in Haus und Garten herum oder er wurde in einem speziellen Kinderwagen spazieren gefahren. Im Laufe der Zeit bekam er immer mehr Krämpfe und wurde dadurch bettlägerig. Mindestens einmal, aber oft bis zwanzigmal bekam er die Krämpfe in der Nacht und meine Eltern sprangen jedesmal auf, er stand vor ihren Betten, und halfen und beruhigten ihn. Zum Schluss war meine Mutter so kaputt, dass sie den großen Jungen nicht mehr heben konnte, was dann stets einer von uns Kindern tat oder mein Vater. Das letzte Jahr ich. Dazu machte ich Pause in der Weimarer Schule. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges starb mein Bruder.

Erna, Selma (links) und Karl in Glatz, etwa 1927

Gottfried und mein ältester Bruder Rudolf waren sechzehn Jahre auseinander, und zwölf Jahre lagen zwischen mir und dem Ältesten. Ich kenne ihn nur aus der Ferienzeit, denn früh kam er in ein Internat, und als er damit fertig war, fing er sein Studium an. Der Bruder konnte so ungefähr alles. Er hatte ein unheimliches Gedächtnis und das half ihm bei vielen seiner Talente. Der Mutter und uns Kindern malte er zu Festlichkeiten eine Karikatur, meist mit Gedicht darunter, oder er malte meinen Eltern ein Bild in die von ihm geschenkten Bücher. Ich sah dem Bruder beim Karikaturenzeichnen sehr gerne zu, und zwar guckte ich mehr auf seine Mimik als auf das Bild. In seinem Gesicht spiegelte sich zuerst der spitzbübische Humor, ehe er seine schon fertigen Gedanken malte und mit wenigen Strichen die Figuren lebensecht auf das Papier zauberte. Der Bruder konnte steppen, tanzen; er hatte sämtliche neu erschienenen Bücher ausführlich im Kopf, er war ein vorzüglicher Unterhalter und Komiker, er las englische und französische Bücher und Zeitschriften, und wenn er ein einziges Mal eine Melodie hörte, spielte er dieses Lied mit vollendeter mächtiger Begleitung auf dem Klavier, für das er nie Unterricht gehabt hatte. Wir zwei Schwestern hatten Unterricht, aber wir waren elende Stümper gegen ihn. Er heiratete früh in eine außergewöhnlich harmonische Familie hinein, und zwar ehelichte er eine Zahnarzttochter. Wann und sooft man hier erschien, eine anheimelnde trauliche Gemütlichkeit empfing einen.

Mein Bruder Rudolf Fenner

Der Zahnarzt hatte damals noch einen Zahnbohrer, den er mit dem Fuß antrat und mit diesem die Geschwindigkeit des Bohrers regelte. Nebenbei spielte er bei Gottesdiensten die Orgel der Stadtkapelle und die der Totenkapelle. War dies der Fall, so saßen die Patienten im Wartezimmer zusammen und unterhielten sich, oft zusammen mit der „Mami“ oder eines der drei Kinder, bis die Behandlung fortgesetzt werden konnte.

Der Bruder des Zahnarztes wohnte, unverheiratet, mit seiner ledigen Schwester im selben Haus. Er war evangelischer Pfarrer und predigte meist auf den Dörfern und nur selten in der Stadt, weil für diese Kirche mehrere Pfarrer vorhanden waren. Auch er war allgemein sehr beliebt und einer der sehr wenigen, der seine Gebete noch sang und den Gottesdienst mit theatralischen Worten und besonders Bewegungen interessant und spannend gestaltete. Ich hatte bei ihm Konfirmationsunterricht, zwei Jahre lang. Aber viel Unterricht war da nicht. Sehr oft hatte er anderes zu erledigen, dienstlich, aber auch privat. Schwierig war es für ihn, die Geburtsurkunden und so weiter, die er zu seinen Eintragungen brauchte, in seinem Dienstzimmer sämtlichst wiederzufinden, denn dieses Zimmer war eine Sehenswürdigkeit. Es lag voller Bücher und Zeitschriften. Auf den Stühlen, vor den Schränken, auf dem Fußboden, und ich glaube, kein Mensch fand sich da noch zurecht. Seine Schwester führte ihm den Haushalt. Da sie mehrmals Patentante war, wurde sie die „Pate“ genannt. Von ihr weiß ich nicht viel. Sie war halt bei sämtlichen Familienfeierlichkeiten dabei. Eine große, stattliche Frau, die, genau wie die übrigen, Zufriedenheit und Gemütlichkeit ausstrahlte. Eines Morgens guckte ich ihr zu, wie sie sich kämmte und ihr Haar aufsteckte, und zum ersten Mal konnte ich zuschauen, wie falsche Haarteilchen, größere und kleinere, mit in die aufgesteckte Haarpracht hineinverarbeitet wurden. Die Pate war darin Meisterin und das Resultat sah verblüffend echt und schön aus.

Mein Bruder wurde Landarzt mit Leib und Seele und seine Frau half ihm all die vielen Jahre aufopfernd täglich in der Praxis neben ihrer Hausarbeit. Alles kochte und buk sie selbst und die vollen Einkochgläser standen in Mengen auf den Borden. Diese glückliche Familie setzte sich mit der des einzigen Sohnes, eines Zahnarztes, in alter Weise fort.

Glatz 1929/1930: Rudi, Karl (rechts),Erna (Mitte), Selma (links)

Meine fast fünf Jahre ältere einzige Schwester Erna stand altersmäßig meinem ältesten Bruder am nächsten. Acht Jahre zählte der Unterschied. Sie hatte unter den Geschwistern einen schweren Stand, denn mein ein Jahr älterer Bruder und ich waren unzertrennlich und ständig bestrebt, sie, die nun schon Dame werden wollte, zu necken. Wir schliefen, bis ich zehn Jahre alt war, zu dritt in einem Zimmer. Eines Tages bekam sie eine Kuckucksuhr geschenkt und freute sich mächtig darüber. Sie hängte sie hinter ihr Bett, aber ständig hielten wir den Perpendikel an oder verstellten die Zeiger. Voller Spannung warteten wir auf ihre Wutausbrüche.

Seine schon fertigen Gedanken malte und mit wenigen Strichen die Figuren lebensecht auf das Papier zauberte. Der Bruder konnte steppen, tanzen; er hatte sämtliche neu erschienenen Bücher ausführlich im Kopf, er war ein vorzüglicher Unterhalter und Komiker, er las englische und französische Bücher und Zeitschriften, und wenn er ein einziges Mal eine Melodie hörte, spielte er dieses Lied mit vollendeter mächtiger Begleitung auf dem Klavier, für das er nie Unterricht gehabt hatte. Wir zwei Schwestern hatten Unterricht, aber wir waren elende Stümper gegen ihn. Er heiratete früh in eine außergewöhnlich harmonische Familie hinein, und zwar ehelichte er eine Zahnarzttochter. Wann und sooft man hier erschien, eine anheimelnde trauliche Gemütlichkeit empfing einen.

Rudolf Fenner, Selmas Bruder, zwölf Jahre älter als sie.

Mein Bruder Rudolf Fenner Der Zahnarzt hatte damals noch einen Zahnbohrer, den er mit dem Fuß antrat und mit diesem die Geschwindigkeit des Bohrers regelte. Nebenbei spielte er bei Gottesdiensten die Orgel der Stadtkapelle und die der Totenkapelle. War dies der Fall, so saßen die Patienten im Wartezimmer zusammen und unterhielten sich, oft zusammen mit der „Mami“ oder eines der drei Kinder, bis die Behandlung fortgesetzt werden konnte.

Der Bruder des Zahnarztes wohnte, unverheiratet, mit seiner ledigen Schwester im selben Haus. Er war evangelischer Pfarrer und predigte meist auf den Dörfern und nur selten in der Stadt, weil für diese Kirche mehrere Pfarrer vorhanden waren. Auch er war allgemein sehr beliebt und einer der sehr wenigen, der seine Gebete noch sang und den Gottesdienst mit theatralischen Worten und besonders Bewegungen interessant und spannend gestaltete. Ich hatte bei ihm Konfirmationsunterricht, zwei Jahre lang. Aber viel Unterricht war da nicht. Sehr oft hatte er anderes zu erledigen, dienstlich, aber auch privat. Schwierig war es für ihn, die Geburtsurkunden und so weiter, die er zu seinen Eintragungen brauchte, in seinem Dienstzimmer sämtlichst wiederzufinden, denn dieses Zimmer war eine Sehenswürdigkeit. Es lag voller Bücher und Zeitschriften. Auf den Stühlen, vor den Schränken, auf dem Fußboden, und ich glaube, kein Mensch fand sich da noch zurecht. Seine Schwester führte ihm den Haushalt. Da sie mehrmals Patentante war, wurde sie die „Pate“ genannt. Von ihr weiß ich nicht viel. Sie war halt bei sämtlichen Familienfeierlichkeiten dabei. Eine große, stattliche Frau, die, genau wie die übrigen, Zufriedenheit und Gemütlichkeit ausstrahlte. Eines Morgens guckte ich ihr zu, wie sie sich kämmte und ihr Haar aufsteckte, und zum ersten Mal konnte ich zuschauen, wie falsche Haarteilchen, größere und kleinere, mit in die aufgesteckte Haarpracht hineinverarbeitet wurden. Die Pate war darin Meisterin und das Resultat sah verblüffend echt und schön aus.

Mein Bruder wurde Landarzt mit Leib und Seele und seine Frau half ihm all die vielen Jahre aufopfernd täglich in der Praxis neben ihrer Hausarbeit. Alles kochte und buk sie selbst und die vollen Einkochgläser standen in Mengen auf den Borden. Diese glückliche Familie setzte sich mit der des einzigen Sohnes, eines Zahnarztes, in alter Weise fort.

Meine fast fünf Jahre ältere einzige Schwester Erna stand altersmäßig meinem ältesten Bruder am nächsten. Acht Jahre zählte der Unterschied. Sie hatte unter den Geschwistern einen schweren Stand, denn mein ein Jahr älterer Bruder und ich waren unzertrennlich und ständig bestrebt, sie, die nun schon Dame werden wollte, zu necken. Wir schliefen, bis ich zehn Jahre alt war, zu dritt in einem Zimmer. Eines Tages bekam sie eine Kuckucksuhr geschenkt und freute sich mächtig darüber. Sie hängte sie hinter ihr Bett, aber ständig hielten wir den Perpendikel an oder verstellten die Zeiger. Voller Spannung warteten wir auf ihre Wutausbrüche.

Anfang Dezember hatte meine Schwester Geburtstag und eine Menge junger Mädchen erschienen. Zwar hatten wir den strengen Befehl, uns nicht zu zeigen, aber mindestens eins der jungen Mädchen holte uns dann doch heran und Nein konnten wir ja nicht sagen.

Als wir und besonders meine Schwester älter wurden, ließ mein Vater im Zwischenstock für uns ein hübsches kleines Zimmer zurechtmachen. Sie hatte aber weiter zu leiden. Erstens fand ich es schon ganz blöde, dass sie sich stets im Dunklen auszog, während mein Bruder und ich zusammen badeten und derlei Scheu nicht hatten. Wir beobachteten genau, was sie tat und wohin sie ging. Sie konnte, wie jedes junge Mädchen, viel Zeit für sich brauchen, und alles zogen wir ins Lächerliche. Schön heimlich, dass die Eltern nichts merkten.

Trotzdem war sie uns beiden gegenüber immer großzügig und gutmutig und schenkte uns viel von ihren paar Sachen. Zu einem ihrer Geburtstage schenkten ihr die Eltern eine kleine geschnitzte Holztruhe mit Schloss, dass sie etwas hatte, wo sie ihre Heimlichkeiten vor uns schützen konnte. Wir beide fanden aber bald einen passenden Schlüssel und lachten uns halb schief über die an sie gerichteten Liebesbriefe darin. Wir waren aber so dumm, dass wir ihr daraus Sätze vorzitierten, und verzweifelt weinte sie. Das tat uns dann doch sehr leid, denn wir liebten sie wirklich.

Meine Schwester hatte das Bestreben, stets neu gekleidet zu sein. Aus diesem Grund

trennte sie ihre alten Kleider auf mit der Absicht, neue modernere daraus zu nähen. Meist wurde das aber nichts und Neues gab’s nicht so oft. Aus diesen aufgetrennten Kleidern nähte ich mir später, als ich in das gewisse Alter kam, allerlei Sachen zusammen, denn der Krieg kam und damit die Einführung der Bezugsscheine für Kleider und Schuhe, und da gab’s nur in großen Abständen etwas.

Meine Schwester kam dann als Tontechnikerin nach Berlin. Der Sender wurde nach Freiberg bei Breslau umgesiedelt, weil Berlin Nacht für Nacht von amerikanischen Bombern angegriffen wurde. Hier in Freiberg besuchte ich sie in meinen Ferien. Wir machten mit ihren Arbeitskollegen und Kolleginnen, darunter zwei Holländer und eine Russin, sehr schöne Spaziergänge und auch eine Nachtwanderung auf die Schneekoppe. Frierend saßen wir gegen Morgen eng aneinandergepresst und warteten auf den Sonnenaufgang, den uns im richtigen Moment aber eine Wolkenwand verdeckte. Kurz nach meiner Heirat 1949 heiratete Erna 1951 einen Musiker (neunzehn Jahre älter und ein Idiot), und beide sind sie nun Musiklehrer. Sie gibt Klavier-, Schifferklavier- und Gitarrenunterricht, er Geigenunterricht.

Der Nächstgeborene war mein ein Jahr älterer Bruder Karl. Er war ein sehr nörgeliges Kind und nichts passte ihm. Damals trugen die Jungen noch die obligatorischen Bleyle-Matrosenanzüge. Jeden dieser Anzüge musste meine Mutter füttern lassen. Sonntagmorgens bekamen wir frische Unterwäsche, und stets stand er, das eine Bein an der Kniekehle des anderen, vor dem riesengroßen Kachelofen und wimmerte vor sich hin. Die Unterwäsche „kratzte“, und erst wenn meine Mutter sie durch und durch geribbelt und damit aber auch wieder zerknittert hatte, zog er sie widerstrebend an. An jedem Essen hatte er, außer bei Kuchen, Puddings und süßen Aufläufen, etwas zu meckern. Viele Jahre hindurch war er einen halben Kopf kleiner als ich, und erst als er bald Soldat wurde, erreichte er seine volle Größe, nämlich genau meine von 1,76. An der Schule hatte der Bruder kein Interesse. Immer war er in Gedanken und grübelte über etwas nach. Viel Migräne hatte er, und wenn es ihm wieder etwas besser ging, las ich ihm vor. Dieses Vorlesen oder einfach erdachte Geschichten erzählen taten wir Geschwister alle und besonders, wenn eins krank war. Jeden Abend im Bett musste, der Reihe nach, einer seine Fortsetzungsgeschichte weiter ausdenken und erzählen.

Mein Bruder konnte sehr schön zeichnen und malen, und nachdem er partout nicht mehr aufs Gymnasium gehen wollte, brachte mein Vater ihn auf die Kunstakademie in Weimar. Hier war er restlos glücklich. Leider dauerte die Zeit nicht lang, denn er musste Soldat werden.

Er bastelte Marionettenpuppen und ich musste ihm beim Vorspielen helfen. Leider sagten meine Puppen nie das, was er sich dachte, was sie sagen und tun sollten, und dann geriet er in Wut, fing an zu heulen und zerriss die Puppen. Er baute oder bastelte unausgesetzt und mein Vater war ständig auf der Suche nach dem Handwerkszeug und Nägeln.

Als Karl aus dem Krieg wiederkam, wurde er, um überhaupt was zu tun, Tischler, Es gab noch kein Material und die Handwerker stellten so gut wie keine Lehrlinge ein. Da brauchte es die ganze Überredungskunst, wenn doch einer eingestellt wurde. Nach ein paar Jahren bekam er den Dienstbefehl, nach Au zu fahren zu dem Uranbergwerk, wo Unmengen Menschen hin dienstverpflichtet wurden. Das wollte er aber durchaus nicht und meldete sich schnell zur Volkspolizei, wo er auch ankam. Er wurde dort Sanitär und heiratete. Als meine Familie und meine Eltern nach dem Westen zogen, musste er bei der Volkspolizei aufhören. Eine Menge Ärzte zogen aber auch nach dem Westen und so wurden Sanitäter in Kursen als „Hilfsärzte“ ausgebildet. Diesen Beruf hatte mein Bruder viele Jahre, bis der Nachwuchs an Ärzten fertigstudiert hatte. Er sollte auch studieren, aber er wollte nicht, und so ist er nun im Gesundheitswesen beschäftigt.

Eine kurze Zeit lang gingen wir drei Geschwister zusammen auf das Gymnasium des

kleinen Städtchens. Damals gab’s noch Ostern die Versetzungen und einmal blieben wir alle drei sitzen. Ob da nicht irgendeine beabsichtigte Bosheit mit im Spiel war, weiß ich nicht. Meine Eltern waren verzweifelt, aber uns gegenüber schimpften sie nicht. Sie wussten genau, dass nicht nur wir allein daran schuld waren. In diesem Jahr blieben sämtliche Nachbarskinder, die auch auf diese Schule gingen, sitzen, und so war der Schmerz kurz.

Klasseneinträge gibt es heute und gab es früher. Nach zwei Einträgen mussten wir zum Direktor gehen und wurden ermahnt. Der Direktor meiner Zeit war der Vater einer Freundin meiner Schwester. Nach vier Einträgen mussten die Eltern zum Direktor kommen. Das besorgte stets mein Vater. Wir Kinder wussten es meist nicht und wunderten uns, warum er schon wieder in der Schule zu tun hatte. Nach einem angenehmen Schwätzchen mit dem Direktor ging er wieder in sein Büro. Machten die Lehrer mit ihren Familien Busausflüge, und meist sehr schöne, so wurden einige zusätzliche Familien eingeladen und so auch unsere.

Meine Freundin musste nach der Untertertia auf die Handelsschule überwechseln, weil sie später ihrem Vater in einem Schusterwarengroßhandel helfen sollte. Meine Eltern waren einverstanden, dass ich mitging, und so liefen wir bis zur Mittleren Reife zwei Jahre in die Handelsschule. Die Freundin immer im Wissen glänzend, ich kläglich hinterherhinkend. Zum Beispiel hatte ich nie eine Schreibmaschine zum Üben, und Buchführung verstand ich überhaupt nicht, bis der Prokurist einer befreundeten Familie meiner Eltern mir die Sache mal praktisch zeigte. Ab da hatte ich wenigstens eine Ahnung. Die Freundin musste dann im Büro ihres Vaters arbeiten und ich durfte in die Höheren Handelsschule Meinigen weitergehen. Dieses Jahr war meine schönste Schulzeit. Das Verhältnis zu den Lehrern, es war schon Krieg, war sehr innig und die Klasse bestand aus fünf Jungen und vier Mädchen. Da in Meiningen kein Wirtschaftsgymnasium vorhanden war und die Schule mit eben dieser Klasse aufhörte, brachte mich mein Vater anschließend nach Weimar. Hier wohnte ich bei zwei alten unverheirateten, sehr netten Lehrerinnen. Da wo mein Bruder auch gewohnt hatte, bis er Soldat wurde.

Das Kriegsende nahte, aber die Schule war noch nicht beendet. Da hörte ich eines Tages im Vorbeigehen am Lehrerzimmer, dass alle Mädchen am nächsten Tag dienstverpflichtet würden als Flakhelferinnen nach Hella erklären, Wieland (Danzig). Ich rannte in die Klasse und sagte es, aber keiner glaubte mir. Nachdem ich schnell alle meine Sachen bei den Fräuleins gepackt hatte, fuhr ich heim, und gleich am nächsten Tag marschierte ich mit meiner Mutter zum Arbeitsamt. Die behielten mich sofort als „Stenotypistin“ dort, und als die Dienstverpflichtung eintraf, schickten sie es mit einem entsprechenden Vermerk zurück. So hatte ich plötzlich einen Beruf. Wenig gab’s zu tun. Die Kollegen und der Chef waren prachtvolle Leute und heimlich häkelte und strickte ich in meinem kleinen Kämmerchen nebenbei die Weihnachtsgeschenke. Immer wenn jemand reinkam, schmiss ich die Arbeit in den Papierkorb.

Das Arbeitsamt wurde 1945 aufgelöst, und als es nach einem halben Jahr ohne „Parteigenossen“ wieder errichtet wurde, holte man mich eines Abends zum Wiedereintritt ab, denn ich war die einzige der ehemaligen Angestellten, die aufgrund meines Alters und weil ich die letzten Jahre nicht in meiner Heimatstadt war, die nicht in der Partei gewesen war.

26. Juni 1949, Verlobung von Selma und Ernst. Erika (links), die Frau von Bruder Karl Schwester Erna (Mitte), die die Schwangerschaft beim Abendessen verpetzt hat, wie Selma häufig erzählte . Ernst und Selma. 231 Tage vor meiner Geburt. Die Dauer der Schwangerschaft beträgt 280 Tage.

Jetzt gab’s mehr zu tun, aber verstehen taten wir uns untereinander wieder ganz ausgezeichnet. Viele Feste wurden miteinander gefeiert und auch Ausflüge unternahmen wir zusammen. Ich wollte dann aber unbedingt mal woanders arbeiten und hatte eine ganz unliebsame Stelle in der Raiffeisenkasse des kleinen Städtchens, wo allerlei passierte, das mir zur Last gelegt wurde. Ich konnte nichts widerlegen, und mein Vater ärgerte sich zwar mit mir, unternahm aber nichts. Vollkommen unglücklich und geknickt verließ ich dieses Büro, hatte danach aber wieder Glück. Ich heiratete 1949 und ging 1952 mit meinem Mann und dem im Schloss geborenen Sohn Wieland nach Kassel.