Wanderungen

Wanderungen

Mein Vater war preußischer Beamter und hatte daher jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag frei. Diese Tage, nebst dem Sonntag, wurden meist dazu benutzt, weite Spaziergänge zu unternehmen. Heute würden diese Spaziergänge zum großen Teil als Wanderungen bezeichnet, aber für meinen Vater war eine Wanderung nur, wenn wir vom ganz frühen Morgen bis spät in den Abend hinein unterwegs waren. Meine Mutter nahm immer, der Gefräßigkeit ihrer Kinder eingedenk, Kuchen oder Brote mit, dass wir nicht zu viel aßen bei der Einkehr im Gasthaus. Im Laufe der Zeit lernten wir unsere neue Heimat Thüringen sehr gut kennen. Ungern liefen wir mit und nur das Versprechen der Einkehr in irgendein Gasthaus erheiterte unsere Gemüter. Unsere Eltern hatten da meist ihre speziellen Gastleute irgendwo auf dem Land oder in einem Waldgasthaus. Überall gab es etwas Spezielles. In einem gute Käsebrote, im anderen vorzügliche Schlagsahne, wo der Vater immer die Reste der Riesenportionen seiner Kinder aufaß, oder wohlschmeckende Wurst und selbst gebackener Thüringer Obstkuchen. Hier hat das Obst auf dem hauchdünnen Teig in saurer Sahne zu schwimmen.

Ernst Fenner (1940) und Charlotte Fenner (1934), Selmas Eltern, Mama und Papa.

Wir liefen auf weit entfernte Berge und waren froh, wenn wir mit der Eisenbahn ein Stück anfuhren. Meist aber wurde alles gelaufen. Wenn wir Kinder auch zuerst nicht mitlaufen wollten, es wurde jedesmal ein wunderschöner erlebnisreicher Tag. Meine Eltern liefen sehr schnell und wir Kinder hatten Mühe, ihnen zu folgen. Aus diesem Grund gingen Nachbarkinder auch nicht gerne mit. Sie sagten, wir würden ja den gesamten Weg Dauerlauf machen. Uns fiel das aber nicht auf. Im Laufe der Zeit kannten wir sämtliche Berge mit Namen, wir unterschieden die Vogelarten im Flug und wussten die Bäume an ihrer Rinde zu erkennen. Mein Vater konnte einen Kuckuck so gut nachmachen, dass er, wenn einer rief, ihn für uns Kinder heranlockte. Meist marschierten wir mitten durch den Wald. Wir Kinder hatten die obligatorische „Rute“ in der Hand, die mein Vater uns auf jedem Spaziergang abschneiden musste, und er trug sämtliche Jacken, Mäntel, Puppen und so weiter der Familie. Meine Mutter hatte in ihrer an der Hand hin- und herbaumelnden Handtasche, ohne die man sie sich nicht denken konnte, auch zu Hause, wo sie die Tasche von Zimmer zu Zimmer mitschleppte aus irgend einem undefinierbarem Grund, also sie hatte in der Tasche immer Schokolade und Bonbons für uns dabei, worüber mein Vater jedesmal wieder schimpfte. Der Vater hatte immer ein bis zwei frische Taschentücher und Klopapier für uns Kinder einstecken, und immer wurde beides gebraucht. Das zweite frische Taschentuch hat er sich so angewöhnt, dass er es heute in seinem hohen Alter noch in der Rockinnentasche hat.

Oft liefen wir auch zum Pfifferlingsuchen in den Wald oder sammelten Heidelbeeren. Für beides hatten wir aber erst ein ganzes Stück zu marschieren.

Jede Woche ein paarmal ging mein Vater „auf Dienstreise“. Im ganzen Kreisgebiet musste er die Neubauten oder Renovierungen der alten Bauten, die staatlich waren, wie fast sämtliche Kirchen und Schulen, abnehmen. Dazu stand ihm ein Auto nebst Chauffeur zur Verfügung. Aber bis auf die allerletzte Zeit, wo er dieses Privileg von Zeit zu Zeit in Anspruch nahm, beantragte er überhaupt kein Auto. Wir Kinder animierten ihn, sich doch wenigstens ein Fahrrad zu kaufen, aber er konnte nicht fahren und wollte es auch nicht. Diese Dienstreisen wurden also achtzigprozentig zu Fuß zurückgelegt und der Rest mit der Eisenbahn. Er lief unheimliche Strecken an einem Tag und kam stets frisch und munter nach Hause, wo er sofort mit der Gartenarbeit anfing. So ungefähr ab meinem zehnten Lebensjahr liebte ich es, meinen Vater auf diesen Dienstreisen zu begleiten. Zu zweit hatte man mehr voneinander und konnte sich gut erzählen und beobachten. Mein Vater richtete sich seine Gänge also so ein, dass er wartete, bis ich an einem Tag die Schule früh aus hatte. Ging das durchaus nicht, fehlte ich wegen Krankheit und brachte am nächsten Tag die Entschuldigung mit in die Klasse. Auf diesen Dienstreisen kehrten wir so gut wie nie ein, sondern hatten das Brot einstecken. Ging mein Vater allein, nahm er gar nichts mit. Morgens frühstückte er ausgiebig, und zwar Malzkaffee mit ein paar richtigen Kaffeebohnen gemischt und viel Milch, Schwarzbrot, Butter und vier bis fünf Sorten selbst gemachte Marmeladen, die er, wenn meine Mutter nicht aufpasste, löffelweise aß. Wurst oder Ei gab’s nie morgens. Abends, wenn er dann heimkam, folgte das zweite umfangreiche Essen, wo sich oft an das aufgehobene Mittagessen gleich das Abendessen anschloss. Zum Abendessen bekamen wir alle ein bis zwei Schnitten mit Wurst oder Käse. Die weiteren Brote aßen wir wiederum mit Marmelade. Oder es gab literweise Kakao mit trockenen Brötchen. Einmal in der Woche bekam jeder einen frisch geräucherten Bückling, wozu es wieder trockene Brötchen gab.

Mein Vater las sehr viel, aber nie lange hintereinander, weil er nicht so lange sitzen konnte. Aus diesem Grund lief er fast jeden Abend im Galopp den Schlossberg runter, durch das ganze Städtchen bis zum Bahnhof, wo er meist einen Brief einwarf. Allein aber machte ihm das keinen Spaß, und meine Mutter, die abends lieber im Garten oder Wohnzimmer saß und vor Müdigkeit kaum gucken konnte, lief dann doch meist mit. Später löste ich sie dabei gerne ab, und eine ganz tolle Sache war es, wenn ich für uns alle bei einer Konditorei aus einem Automaten eine Tafel Schokolade zu 48 Pfennig (zwei Pfennig lagen bei) ziehen durfte.

Bis ins hohe Alter hinein legten meine Eltern noch immer weite Märsche zurück. Wenn sie uns in Kassel besuchten, wo wir und meine Eltern später wohnten, liefen sie nicht etwa die gerade Strecke zu uns, sondern kamen im weiten Bogen über irgendeinen Berg angelaufen. Erst seit ungefähr fünf Jahren haben diese Märsche nachgelassen, aber noch immer laufen die Eltern heute mit ihren 85 beziehungsweise 90 Jahren recht munter hinein in die Stadt zum täglichen unentbehrlichen Einkauf oder über die Wiesen und Felder in Richtung Schloss.

Schmalkalden, 8. März 76