Zwetschenmus

Zwetschenmus

Unsere Zwetschenbäume, etwa dreißig Stück, hingen Jahr für Jahr furchtbar voll. Die meisten standen am Abhang des steilen Obstgartens und beim Schütteln kullerten die Zwetschen weit den Hang hinunter. Unser Vater setzte ab und zu neue Bäumchen, die unter den alten von selbst entstanden. Nach zwei Jahren hingen hier auch schon wieder Früchte dran. Es muss eine gute Sorte gewesen sein, denn die längliche, große Frucht war fest und gelbfleischig und verlockte uns richtig dazu, unentwegt Zwetschen zu essen und die Kerne in weitem Bogen ins Gras zu spucken.

Der Segen war jedes Jahr enorm. Zuerst wurden die Bäume geschüttelt, als zweites die festhängenden Zwetschen gepflückt und der Rest wurde mit dem Stock runtergeschlagen. Gut erreichbare kleine Bäumchen blieben bei der Haupternte verschont, denn bis zum Frost buk meine Mutter jede Woche ein riesengroßes Blech Zwetschenkuchen und eins mit Äpfeln. Wir Kinder liefen dazu zum Bäcker und holten „das größte Blech, das er hatte“. Wenn der Kuchen dann fertig zurechtgemacht war, trugen wir die Bleche abermals zum Bäcker in das Städtchen, holten sie gegen Mittag fertig ab und brachten zuletzt die Bleche wieder zurück. Meine Mutter ersparte sich dadurch das mehrmalige Backen in ihrem Gasherd auf kleinen Blechen, und wir Kinder kannten es nicht anders, da wir täglich unzählige Male den Berg hinunterliefen in die Stadt.

Von den kleinen Bäumchen konnten wir auch noch jeden Tag Zwetschen essen, denn gepflückte schmecken nicht halb so schön. Die letzten schon angefrorenen und verhutzelten Früchte aß mein Vater. Er sagte, jetzt seien sie erst richtig süß.

Tagelang also ernteten wir Zwetschen, und meine Geschwister und ich mussten die schweren Körbe voll nicht nur um das ganze Schloss herum bis in die große Diele schleppen, sondern auch sämtlichen Bekannten einen Korb davon bringen. Jedes Jahr schimpften wir aufs Neue, dass wir die Arbeit hatten und die Bekannten keinen Finger dafür krumm zu machen brauchten, denn genau so war es bei der Apfelernte. Allmählich wurde es so Sitte, dass manche Leute sich den Korb einmahnten. Zum Schluss wurden wir nochmals losgeschickt, die leeren Körbe wiederzuholen.

Da war es mit den direkten Nachbarn anders. Jeder zwar hatte einige wenige Bäume Zwetschen, aber sie nahmen gern noch von unserem Segen ab, um davon Pflaumenmus zu kochen. Dafür halfen sie unser Mus vorbereiten. War die Ernte fertig, buk meine Mutter „zwischenzeitlich“ in der Woche Obstkuchen. Abends erschienen die Nachbarn. Jeder hatte eine große Schürze und sein handlichstes kleines Messer dabei. Im großen Kreis setzten wir uns in der Küche um die Körbe von duftenden Zwetschen und steinten sie aus. Zwei Mal mussten wir sie zerschneiden, und dann mahlte sie mein Vater, solange wir entsteinten, durch den Fleischwolf. Schwer ließ er sich nicht drehen, aber nach ein paar Stunden war man krumm und lahm von dem gebückten Stehen. Daher lösten wir ihn ab und zu mal ab. Laut war’s, und mit roten Gesichtern und klebrigen Händen erzählte und neckte jeder jeden, und am Schluss der Arbeit waren alle heiß und erschöpft, zum Teil vom vielen Lachen.

Jetzt aber ging’s erst richtig los. Mengen Kaffee wurden gekocht und dazu gab’s frischen Zwetschen- und Apfelkuchen. Spät in der Nacht verabschiedeten sich die Helfer und jeder ging zufrieden und vollgegessen ins Bett. Am nächsten Morgen stand diesmal mein Vater ganz früh auf. Er schüttete die durchgedrehten Zwetschen in unseren großen kupfernen Waschkessel in der Waschküche und machte darunter ein flottes Feuer (mit Holz) an. Ab und zu legte er auch ein Brikett nach. Aber meist mussten Unmengen von Holz das Zwetschenmus stark am Kochen halten. Wir hatten einen dicken, langen Holzstab, unten mit einem breiten Oval dran zum Rühren anfertigen lassen, und durch den jahrelangen Gebrauch war dieser Stab schon ganz dunkelbraun geworden. Das Mus musste von Anfang an den ganzen Tag am Kochen gehalten werden und besonders unentwegt umgerührt werden, sonst brannte es schnell an. Bei diesem Rühren und Holzauflegen wechselte sich die ganze Familie ab, dick vermummt mit alten Jacken und besonders Handschuhen, denn je dicker das Mus einkochte, umso mehr spritzte es. Wenn es am Spätnachmittag zu mindestens der Hälfte eingekocht war, probierte meine Mutter mit einem Kleckschen Mus auf der Untertasse, ob es steif genug und damit auch haltbar genug war, um sich bis zur nächsten Zwetschenernte zu halten. Die großen graublauen gemusterten Steintöpfe wurden gewaschen und mit Mus gefüllt. Wenn es erkaltet war, band mein Vater ein Pergamentpapier darüber (genau wie bei unseren Flaschenheidelbeeren das Mulltüchlein, Luft musste drankommen). Das Mus hatte eine dunkelbraune, fast schwärzliche Farbe. Es schmeckte süß und machte schnell satt. Weder Zucker noch irgendein Mittel zum Haltbarmachen kamen hinein.

Die zehn bis zwölf vollen großen Töpfe stellte meine Mutter in die Speisekammer, und jeden Morgen gab es dieses Mus neben anderen Sorten Gelees und Marmeladen, und jeden Morgen aßen wir es wieder gerne, denn wir bekamen nur eine Butterschnitte, und auch hierauf verzichteten wir meist, weil uns die Marmeladen viel besser schmeckten. Bis spät in den Abend hinein mussten wir zum Abschluss noch den Kessel schrubben, dass er wieder glänzte, und den Waschküchenboden von den vielen Musspritzern sauberscheuern. Als wir 1961 ins neue Haus (in Kassel) zogen, musste ich unbedingt auch solch Kupferkessel haben und sah schon das Mus drin. Wir hatten aber nur zwei Zwetschenbäume und ich kochte das Mus auf dem Herd. Außerdem bekam ich bald eine Waschmaschine. Der schöne Kessel stand also jahrelang ungebraucht herum. Unsere Hausnachfolger warfen ihn dann weg.

Ostenfelde-Kassel 1975