Aborte

Aborte

Wir Kinder versteckten uns oft in winzigen Vorbauten hinter dem Schloss. Sie sahen aus wie angebaute Kamine. Durch eine etwa einen Meter hohe schmale Türöffnung krochen wir in das rohrartige Gebilde hinein. Nix war zu sehen. Nur wenn man hochschaute, ragten im ersten und zweiten Stock des Schlosses ein paar Balken und Bretter unter einer normalen Tür hervor, die in das Innere des Schlosses führten. Sie waren aber zu. Von innen zugemauert. Die Balken und Bretter waren der Rest der ehemaligen Plumpsklos. Diese Anlagen hätte man denkmalschützen sollen, denn wo floss das Zeugs ab? Wir fanden es.

Als mein Vater für uns die Landgrafenwohnung ausbauen und besonders historisch renovieren ließ, wurde auch ein kleines Verlieschen am Wohnzimmer einfach zugemauert, weil es unangenehm roch. Eine Etage tiefer ließ er dieses winzige Räumchen isolieren und einen Wandschrank einbauen. Ein etwa anderthalb Meter breiter und langer Raum, der neben unserem Kinderschlafzimmer lag, enthielt, neben einem noch offenen, sehr schönen großen Kamin, vorne bei dem kleinen Fenster noch solch eine Ecke wie eben beschrieben. Hier war aber noch die Bedeutung vorhanden, nämlich das Plumpsklo hinter einer kleinen Tür. Mein Vater ließ diese Tür einfach zunageln, weil dieser enge lange Raum uns nur als Schuhkammer diente. Im Weißen Saal befand sich ein weiterer solch ausgebauter Wandschrank, der aber schon früher hergestellt wurde. Die davorliegende Tür, alles mit Stuck, passte sich so dem anderen Stuck an den Wänden an, dass man die Tür überhaupt nicht bemerkte. Deshalb verwahrte meine Mutter im Krieg und danach all ihre Schätze darin auf, denn dieser Schrank roch nicht und enthielt sogar ein winziges Fensterchen.

Die Fürsten hatten also früher fast an jedem Zimmer ihr eigenes Klo. Fürchterlich muss das gestunken haben. Wohin der Kot aber sickerte, das war ein Rätsel. In einem dieser Vorbauten hinter dem Schloss fanden wir kurz nach dem Krieg einen Offiziersäbel und andere derartige Kleinigkeiten wie Schulterstücke und so weiter. Es war wohl ein Offizier gewesen, der es nicht fertigbrachte, die Sachen ganz zu entsorgen, sie zum Beispiel ins Wasser zu werfen, weil sie ja sonst verrosteten. Unter unserem Garten im Entersteich wurden derartige Sachen haufenweise rausgefischt. Bei Kriegsende 1945 verheimlichten viele Offiziere, um als „gemeiner Soldat“ zu gelten. Sie hatten um ihr Leben Angst. Es waren aber nur die, die vorher ihren Offiziersrang zu sehr herausgekehrt hatten.

Es war noch vor dem Zweiten Weltkrieg, da gruben Arbeiter eines Tages hinter dem Schloss ein Loch. Nach etwa zehn Metern Wiese verlief längs dieser Seite eine drei Meter hohe Mauer. Dahinter lag unser Obstgarten. Ein sehr steiler Hang, der unten am Ende wieder mit einer etwa acht bis zehn Meter hohen Mauer endete.

Am Fuß der Mauer lag der öffentliche „Liebaugsgarten“. Zu meiner Zeit spielten auf dem öden Platz nur Kinder Fußball und die Mütter saßen auf ein paar alter Bänken an der Mauer und schauten zu. Wir Kinder saßen also auf der oberen Gartenmauer und guckten den Arbeitern beim Lochgraben zu. Unser Süßkirschbaum hing voller Kirschen und wir konnten herrlich dabei haufenweise diese Früchte essen und spuckten die Kerne so weit wie möglich in den Garten. Plötzlich entstand Unruhe bei den Arbeitern. Alle scharten sich zusammen und gruben wie wild drauflos. Sie hatten eine alte Steintreppe gefunden. Sofort wurde einer der Männer losgeschickt, den Bauführer zu holen. Schwitzend und keuchend legten sie die Treppe frei, die in ein niedriges Gewölbe führte. Schön Stein an Stein gepresst, sahen wir einen intakten rohrartigen, etwa im Durchmesser 1,50 Meter hohen Gang. Der Gang führte steil bergab unter unserem Obstgarten entlang. Nachdem sich inzwischen mehrere Honoratioren der Stadt eingefunden hatten, krochen diese nebst ein paar Arbeitern mit einer Laterne in das Loch und verschwanden für lange Zeit.

Uns zuguckenden Kindern wurde streng verboten, nachzugehen. Wir platzten bald vor Neugier, aber wir bekamen nichts gesagt, und abends wurde die Treppe so verbarrikadiert, dass wir nicht in den Gang gehen konnten. Der nächste Tag war aber ein Sonntag. Früh schon trafen wir Kinder uns hier. Mit viel Mühe machten wir so weit Platz, dass wir uns durch die Sperre quetschen konnten, und nun machten wir uns mit Laternen ebenfalls auf einen Erkundungsgang. Mit der Zeit wurde die Luft immer stickiger, aber die Wände waren völlig intakt. Es drohte also keine Einsturzgefahr. Weit mussten wir gebückt bergab laufen. Dann endete der Gang in einem riesengroßen unterirdischen Raum, gemauert und unten Erde. Noch zwei weitere Gänge endeten seitlich von uns in diesem Raum. Nichts Interessantes war zu sehen. Weder Knochen noch sonst was lag herum. Enttäuscht machten wir uns auf den Rückmarsch und kamen keuchend, aber glücklich wieder oben an und stellten die Sperre vor dem Eingang wieder so her, wie sie vorher war.

Nachdem bei der Stadt sämtliche alten Unterlagen des Schlosses durchgestöbert wurden, kam man auf des Rätsels Lösung. Die drei Gänge bildeten die Fortsetzung der damaligen Toiletten, also dieser vielen kleinen Vorbauten. Sie endeten steil weit unten unter dem Liebaugsgarten in der natürlichen, mächtigen Sickergrube. Die Grube lag so weit vom Schloss entfernt, dass der Kot jahrhundertelang in Ruhe versickern konnte. Der Eingang wurde zugeschüttet und außer uns Kindern weiß niemand von dem interessanten Gang. Aber was für eine glorreiche Idee hatten damals die Menschen und was für eine fürchterliche Arbeit war das.

19. März 1976