Frau Petter

Kommt man den steilen, steinigen Schlossberg hinaufgekeucht, erstreckt sich links eine acht Meter hohe Mauer, sie umschließt den Exerzierplatz vor dem Schloss. Die Mauer endet an einem Torbogen, an dessen Seite, in die Mauer mit eingebaut, ein uraltes Häuschen liegt, das frühere Wächterhaus. Dieses Häuschen hatte sechzig bis siebzig Zentimeter dicke Wände, winzige Fenster und ebensolche Stübchen. Trat man in die Haustür, stand man gleich in der kleinen Küche, Einen großen Teil des Fußbodens bildete eine Falltür, durch die man eine steile Treppe hinab in den winzigen feuchten Keller kam. Die Küche war durch Keller und Haustür nie warm zu bekommen, obwohl das Herdchen immer brannte.

Die Wohnung von Frau Petter

Hier in dem Haus wohnte damals eine alte Frau. Ihre Kinder lebten mit ihren Familien in anderen Städten und ihr Mann war schon lange tot. Dieses kleine, zarte Frauchen war eine Seele von Mensch. Sie liebte uns Kinder sehr, und obwohl wir ihr manche Streiche spielten, war sie uns immer zugetan. Die Haustür wurde von ihr nie geschlossen. Ob sie das tat, wenn sie schlafen ging, weiß ich nicht. Eine Klingel war auch nicht vorhanden, also marschierte man einfach in die Küche hinein, wenn man Frau Petter besuchen wollte. Eines Nachts, die Gärten hier waren schon in eine Parkanlage umgewandelt worden, stürzte eine junge Frau in die Küche. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten, dann aber Angst bekommen. Die ängstliche Frau Petter bekam fast einen Schlag vor Schreck und ab da schloss sie ihr Türchen zu.

Ich besuchte die alte Frau liebend gern. Sie saß in ihrem Wohnzimmerchen auf einem Podest am Fenster. Viel konnte sie dadurch nicht sehen, aber der Blick ließ ihr eine Sichtecke an dem Torbogen zu, dass sie, etwa zwei Schritte lang, die Passanten vorbeigehen sah. War die Person interessant, lief sie zum Fensterchen in der Nordwand und hatte von da einen langen Blick den Weg hinauf vor sich bis zum Schlosstor. Aber sie war nicht sehr neugierig. Meist saß sie und strickte für ihre Enkelkinder irgendetwas. Meine Mutter hatte mir zwar schon früh das Stricken beigebracht, aber die richtige Perfektion gab mir diese alte Frau. Sie hatte ja Zeit und Geduld dazu und durch sie bekam ich das erste Mal in der Schule in Handarbeit eine Eins, während ich bei der vorigen Lehrerin, einem ältlichen Fräulein, immer an einer Fünf vorbeischlitterte. Nicht etwa, weil ich nichts konnte, sondern weil sie sich ärgerte, dass ich nie das genau so fabrizierte, wie sie wollte. Wir nähten eine Schürze, und als wir sie vorzeigen mussten zum Benoten, hatte ich Margeriten in Plattstich draufgestickt. Anstatt mich zu loben, bekam sie einen Tobsuchtsanfall. Dann mussten wir ein Nadelkissen zum Zuklappen in Kreuzstich sticken, genau nach irgendeinem Muster, und zwar die Vorder- und Rückseite genau gleich auszählen. Ich zählte nicht und stickte zwei verschiedene Muster nach meinem Geschmack. Und so ging’s weiter, bis eine andere Lehrerin kam, die meinen Eifer belohnte. Ich schob damals meinen gewaltigen Erfolg auf Frau Petter und liebte sie nur noch inniger.

Licht brannte sie kaum aus Sparsamkeit, und so saßen wir meist bei schummrigem Tageslicht, das sich durch die zwei kleinen Fensterchen quetschte, einander gegenüber und handarbeiteten. Frau Petter erzählte dabei wunderschöne Geschichten aus ihrer Jugendzeit und wie schön es gewesen war, als das Schloss noch für Publikumsdurchgang verboten gewesen wäre und abends die riesigen Eisentore verschlossen wurden. Ich bekam Einblick in die ärmlichen und kargen Verhältnisse der Jahre um die Jahrhundertwende herum, dass die Männer damals durchschnittlich zwölf Stunden am Tag arbeiten mussten, auch sonnabends. Selbst der Sonntag war für die meisten nicht dienstfrei. Die Klassenunterschiede müssen damals gewaltig gewesen sein, und die kleinen Leute, wie Petters es waren, hatten da nichts zu lachen. Sie sammelten sich unentwegt ihr Brennholz zusammen, um nur keine Kohlen kaufen zu müssen, und viel geändert hatte sich auch nichts daran, als ich sie kennenlernte. Von ihr bekamen wir unseren ersten Hasen geschenkt, weil wir ihr täglich Kartoffelschalen und andere verwendbare Abfälle für ihre Hasen brachten.

Meine Mutter kocht sehr gut, aber an eins machte sie sich nie heran, obwohl wir sie immer wieder darum bettelten: die Thüringer Klöße. Bei der alten Frau durften mein Bruder und ich mehrere Male mitessen und wir halfen ihr auch kräftig bei der Zubereitung der Klöße. Wir aßen sie leidenschaftlich gern und zu damaligen Zeiten waren die Kartoffeln noch recht preiswert. Deshalb verstanden wir unsere Mutter nicht. Nachdem wir mehrmals bei Frau Petter geholfen hatten, machten wir uns daheim ans Werk. Wir schälten einen großen Eimer Kartoffeln und rieben den größten Teil auf einer Handreibe. Als nächstes pressten wir sie durch ein Tuch, bis fast kein Wasser mehr drin war. Ein Viertel der Kartoffeln wurde gekocht, mit Milch zerquetscht und unter die rohe Masse samt Salz und Stärke gemischt. Die fertig geformten kindskopfgroßen Klöße mit gerösteten Semmelbröckchen drin wurden dann zwanzig Minuten gekocht.

Unsere Familie war begeistert und ab da kochten wir öfter Klöße. Mutter kaufte eine Kartoffelreibe und eine Presse, und nun bekamen wir auch heraus, warum sie sich so standhaft geweigert hatte, die Klöße zu kochen. Es war ihr zu viel Arbeit.

Wenn wir um den Exerzierplatz auf der Mauer liefen, die ja acht Meter hinunterging, kam jedesmal die alte Frau aus ihrem Häuschen gestürzt und brach in Wehklagen aus. Aber gerade das verlockte uns, dieses Kunststück immer wieder zu vollbringen. Wir taten noch mehr. Von außen standen in etwa einem Meter Tiefe von Zeit zu Zeit kleine Mauerstützen hervor oder das Ende eines gemauerten Wasserablauflochs. Dort quetschten wir uns drauf und beim Versteckenspielen waren diese winzigen Vorsprünge unser liebstes Versteck. Es war zu verstehen, dass Frau Petter, die das stets aus allernächster Nähe mitbekam, schier umkam vor Angst. Sie stieß dann immer kleine schrille Schreie aus und verfiel bei ihrer Klagerei in tiefstes Thüringer Platt, während sie sich sonst immer bemühte, hochdeutsch zu sprechen. Sie trug stets über ihrem dunklen, langen Kleid eine ebensolch dunkle Schürze. Und wenn sie aufgeregt war, rollte sie Hände und Arme in die Schürze und hielt sie, wie in einer Zwangsjacke, uns beschwörend entgegen.

Herr Rauch, der Nachfolger von Frau Petter

Ihr kleines Haus besaß neben der erwähnten Küche noch drei Zimmer zu ebener Erde, eins dunkler als das andere, und auf dem Boden hatte sie noch zwei hellere Zimmer, sogar mit Holzfußboden, in dem ihre Jungen früher schliefen. Diese zwei schönsten Zimmer benutzte sie aber nie. Wir konnten dort nur eine umfangreiche Schmetterlingssammlung eines ihrer Söhne bewundern und ähnliche staunenswerte Seltenheiten.

Als jeder im Krieg Evakuierte und Flüchtlinge aufnehmen musste, bekam auch die alte Frau Petter ein Ehepaar zugewiesen, das nicht viel jünger als sie war. Zuerst erschien der Mann. Er gewöhnte sich schnell ein und machte ab da alle schweren Arbeiten für Frau Petter. Nach kurzer Zeit wurde die Frau des Mannes erwartet, die aus irgendeinem Grund mit einem anderen Transport ankam. Ihr Mann holte sie am Bahnhof ab, und als sie ihn sah, freute sie sich so, dass sie die Eisenbahntreppe hinunterfiel, beide Beine und noch mehr brach und unendlich lange im Krankenhaus lag. Der Mann war also erst mal allein bei Frau Petter. Man sah ihn meist Holz hacken oder aus dem Wald holen, und er war ein ebenso liebenswürdiger und interessanter Mann wie Frau Petter. Die wurde bald darauf krank und ein Jahr lang bettlägerig und der Mann pflegte sie bis zu ihrem Tod aufopfernd. Dann erschien seine Frau aus dem Krankenhaus, und da sie bis zu ihrem Tod auch dahinkränkelte, pflegte er also da gleich weiter. Als meine Kinder klein waren und wir die Oma auf dem Schloss besuchten, war es dieser Mann, der nun meine Kinder anzog. Er hauste auf dieselbe Art und in denselben Möbeln in dem kleinen Häuschen wie früher Frau Petter, half jedem in seiner liebenswürdigen ostpreußischen Art und lebte noch lange dort. In den siebziger Jahren baute sich ein junger Mann für seine kleine Familie dieses Häuschen mit unendlicher Geduld und Schufterei moderner um.

November 1999 – Ergänzung von Karl Fenner

Herr Rauch war sehr befreundet mit der Familie Bode. Er war Führer im Museum und sie Putzfrau. Herr Rauch ging fast jeden Abend zu Bodes zum Fernsehen; er selbst hatte keinen Fernseher. Eines Abends riefen Leute vor dem Schloss laut um Hilfe. Ich sah aus dem Fenster und da lag auf dem Rasen ein Mann. Ich nahm schnell meine Hausbesuchstasche und rannte raus. Der da lag, war Herr Rauch. Ich habe ihn untersucht, er war tot. Mit den fremden Leuten haben wir ihn in sein Haus getragen und auf sein „Bett“ gelegt, einen Müllhaufen. Um das Weitere haben sich dann Bodes gekümmert. So einen schönen Tod wie Herr Rauch möchte ich auch haben.

Er war zum Abendessen in der Wirtschaft „Hessischer Hof“, bekannt als Binkebank, gewesen und nun auf dem Weg zu seinem Häuschen. Da fiel er um und war tot.

Schmalkalden, 1976