NSDAP

Schmalkalden ….„Du bist nicht würdig befunden worden, ein Mitglied der Hitlerjugend zu sein.“

NSDAP

Als Adolf Hitler 1933 „die Macht übernahm“, war ich sieben Jahre alt. Interessieren tat uns das ganze politische Brimboria nicht, denn es betraf uns ja nicht direkt. Wir Kinder bekamen jeder ein Fähnchen mit einem Hakenkreuz drauf in die Hand und ein großer Umzug wurde im Städtchen veranstaltet, dem sich abends ein Fackelzug anschloss. Dies war der erste große Fackelzug, den ich sah, und er beeindruckte mich tief. Ebenso die Fähnchen.

Ich durfte mit meinen Eltern zur Wahl. Zwar war es mir verboten, mit in die Wahlecken zu gehen, aber ich weiß, dass mein Vater und andere Leute sagten: „Wahl? So‘n Mist. Als einziges steht auf dem Zettel das Ja.“ Anschließend wurde mehrere Male ein „Eintopfessen“ auf dem Markt ausgegeben. Große lange Tische standen dort in Reihen mit Bänken und ein Teller Suppe kostete dreißig Pfennig. Das war natürlich eine prima Sache, zumal stets der Bierstand nicht fehlte. Zu solchen und ähnlichen Anlässen sagten wir Kinder: „Die Eltern machen in Volksverbundenheit.“

Glücklich waren und an schnellem Selbstvertrauen gewannen manche Mädchen meiner Klasse. Ihre Väter, die vorher lange arbeitslos gewesen waren, bekamen wieder Arbeit, und viele Familien, auch die winzigen Handwerksbetriebe, die immer am Rand des Ruins schwebten, blühten auf. In Kürze wuchsen sich aber manche dieser Blüten zu Klatschmohn aus und Männer in der Partei der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) über sich selbst hinaus. Die, die ihre Macht wohl einzusetzen wussten mit Geist und Hirn, wurden hundertprozentig überzeugte, trotzdem anständige Nationalsozialisten. Sie hießen die Ideen Hitlers gut und halfen nach Kräften, diese Ideen auszuführen. In Kürze gab’s in Deutschland keine Arbeitslosen mehr. Viele Arbeitersiedlungen entstanden am Rand der Städte mit eigenen kleinen Häuschen, die die Arbeiter meist in Selbsthilfe gebaut hatten. Die einheitliche und straffe Ordnung des deutschen Volkes schien zunächst zum Wohle aller zu gedeihen. Bald aber kristallisierten sich die Großmäuler überall heraus. Sie avancierten schnell und begannen, zum Übel aller, die Parteien zu regieren. Durch ständige Schulungen lernten sie, die Menschen mit schlechten Augen zu sehen, und droschen, mit erhobenem Arm, ihre leeren Phrasen.

Der Arbeitsdienst wurde eingeführt. Das hieß, dass alle jungen Männer, ehe sie in den Beruf gingen, etwas über ein Jahr in Kasernen kamen. Sie wurden in den Grundbegriffen des Militärs vorgebildet und halfen meist an Großbaustellen oder wo eben viele Leute gebraucht wurden. Zum Beispiel fing man mit den Autobahnen an, die damals aus Beton und fast nur in Handarbeit gebaut wurde. Menschen, die ihr ganzes Leben noch nicht aus ihrer Heimat herausgekommen waren, konnten Ferien machen. Das ermöglichte der Verband „Kraft durch Freude“, der besonders die vermittelte, die eben noch nie Ferien gehabt hatten. Kosten tat’s kaum was. Die Mädchen mussten, wenn sie die Schule beendet hatten, das sogenannte „Pflichtjahr“ machen. Sie wurden in kinderreichen Haushalten eingesetzt, in Krankenhäusern, Heimen, auf dem Land.

Wir Mädchen mussten ab zehn Jahre zu den „Jungmädchen“ gehen und die Jungen zum „Jungvolk“. Ab vierzehn Jahren hieß es dann BDM (Bund deutscher Mädchen) und HJ (Hitlerjugend) für die Jungens. Mit achtzehn Jahren kam man in die Frauenschaft beziehungsweise zur SA (Sturmabteilung) oder, wer mutig, draufgängerisch, rücksichtslos und dazu noch besonders groß war von den Männern, konnte in die SS (Schutzstaffel) eintreten, manche sogar in die SS-Leibgarde Hitlers. Diese SS-Leute bekamen später ein „Blutzeichen“ unter dem Arm eingeritzt, woran die Besatzungsmächte und Kommunisten nach der Niederlage 1945 sofort Mitglieder der SS erkannten.

Alle Menschen aber ab achtzehn Jahren sollten in die Partei, die NSDAP, eintreten. Viele taten‘s nicht; kurz vor dem Krieg dann wurde man einfach in die NSDAP „übernommen“. Wollte man seiner Arbeit sicher sein, konnte man sich nicht dagegen wehren. Nur wenige Leute kämpften (oder manche vielleicht auch nicht) umsonst darum, in diese Partei aufgenommen zu werden. Zum Beispiel die „Logenbrüder“. Ich weiß von mehreren, die wer weiß was drum gegeben hätten, mitmischen zu dürfen. Nach dem Krieg, als diese Logenbrüder dann wieder anerkannt wurden und glücklich waren, nicht in der NSDAP gewesen zu sein, hatten den größten Mund wiederum die, die während des Hitlerregimes die Loge in die Hölle gewünscht hatten.

Mein Vater trat, um nicht in die NSDAP zu müssen, in die weniger parteiliche SA ein. Sein „Dienst“ bestand zum allergrößten Teil darin, dass er Sonntagmorgens zum Schützenhaus zum Schießen ging. In brauner Uniform natürlich. Oft begleitet von seinen Kindern, die zwischen den schießenden SA-Männern herumkrochen und die leeren Patronen aufhoben. Zum Schluss wurde ein Bier getrunken und wir hüpften indessen in der Umgebung rum. Dann war der „Dienst“ beendet und wir liefen heim zum Mittagessen.

Ernst Fenner, rechts, und Philipp Prinz von Hessen im Hof von Schloß Schmalkalden, wahrscheinlich 1937

Ergänzung zum Foto von Karl Fenner, Selmas Bruder: „Der Bürgermeister zur Hitlerzeit hieß Kramer. Auf der Photographie mit dem Prinzen Philip von Hessen steht er direkt neben Papa (Papa als einziger Zivilist). Papa hat viele Konflikte mit ihm ausgefochten. Er war ein Erznazi, hat aber auch allerhand für Schmalkalden getan. Die schöne Freilichtbühne über dem Volksgarten, das Gasthaus Ehrental, das Questenhaus (am Berg über dem Schloss) sind seiner Initiative zu verdanken. Andererseits war seine Mitwirkung, bei der Inhaftierung von Tischler Joachim und dem armen Berthold nicht zu übersehen. Papa verhandelte mit Kreisleiter Otto (Doppelotto, weil so dick) und bekam wirklich beide wieder frei. Den Bürgermeister haben die Russen umgebracht.“ (5. Dezember 2004)

1938 wurde meinem Vater „dringend angeraten“, nun endlich, als führender Beamter, in die NSDAP einzutreten. Er tat’s und wurde, wie so viele andere, nur zahlendes Mitglied. Mein Vater bewahrt noch einige Briefe von dieser Hitlerzeit auf. Vom Ortsgruppenleiter bekam sein Büro immer mal Plaketten zugeschickt, die er verkaufen sollte. Nach geraumer Zeit packte er sie ein, schickte sie zurück und schrieb, dass er sie nicht losgeworden wäre. Der Antwortbrief, kurz und zackig, sagte ihm, dass er kein „Volksgenosse“ wäre. Andere Büros würden noch Plaketten nachholen und wären stolz, möglichst viele zu verkaufen. Dieses Spielchen wiederholte sich mehrere Male, und ab da übersah der kleine kurzbeinige Ortsgruppenleiter Henning meinen großen und schlanken Vater. Aber wenn die SA Straßensammlungen mit Büchsen veranstaltete, wehrte er sich nicht.

Foto Ernst Fenner und Nazis auf dem Schloß. S. 27 mit Text (im Bild)

Mehrere Male durften wir mit ihm in der Stadt „sammeln“. Er mit der Büchse, wir etwas abseits neugierig zuguckend, wer was gab und wer nicht. Auch Listenhaus-Sammlungen machte er mit, zum Beispiel für die Winterhilfe.

Davon würden, so sagte man uns, warme Kleider für die armen Leute gekauft und Kohlen. Fast jede Woche wurde für irgendetwas gesammelt, auch wir Kinder mussten das unausgesetzt tun und ab da habe ich eine furchtbare Abneigung gegen Sammlungen aller Art. Meine Geschwister und ich entgingen zufällig dem Eintritt in die NSDAP. Mein Bruder war, als er achtzehn Jahre alt wurde, bereits Soldat und aus diesem Grund nicht mehr in seiner Heimatstadt, meine Schwester arbeitete bei Breslau als Tontechnikerin und ich ging in Weimar zur Schule. Meine Mutter trat in nichts ein, obwohl sie oft darauf angesprochen wurde, und das recht unverschämt. Auf den Straßen hatte man sich mit erhobenem Arm und „Heil Hitler“ zu grüßen und bekam mißbilligende Blicke zugeworfen, wenn man „guten Tach“ sagte. Es gab aber viele, die trotzdem weiterhin „guten Tach“ sagten.

Ich wurde also mit anderen gleichaltrigen Mädchen mit zehn Jahren in die „Jungmädchen“ aufgenommen. Das heißt, aufgenommen noch nicht, denn man musste sich ein Vierteljahr bewähren. Wir mussten einen blauen Rock und weiße Bluse anziehen, die „Uniform“. War das Vierteljahr rum, bekamen wir in einer Feierstunde schwarzen „Schlips und Knoten“ dazu. Ab da waren wir „aufgenommen“. Ich konnte dem „Dienst“ nichts Schönes abgewinnen, und mir graute vor den drei Nachmittagen in der Woche, wo wir antreten mussten. Wir lernten exerzieren, bekamen Phrasen aller Art eingedroschen und turnten viel. Auch Singnachmittage gab’s und Geländespiele wurden veranstaltet. Ein großer Teil dieser Sachen hätte mir Spaß gemacht, wurde aber durch die „Führerinnen“ total vermiest, und ich staunte, wie sich Mädchen, mit denen wir am Anfang unseres Zuzugs in dieses Städtchen als Nachbarn beisammen wohnten und mit denen wir gespielt hatten, sich verwandelt hatten. Sie sprachen kein privates Wort mit mir und auf der Straße wurde man angeschrien, wenn man sie nicht vorschriftsmäßig mit erhobenem Arm, gerader ausgestreckter Hand und einem lauten „Heil Hitler“ grüßte. Der Größenwahn hatte sie ergriffen. Als dann die Feierstunde heranrückte, wo wir Schlips und Knoten umgehängt bekamen, wartete ich umsonst. Als ich zum Schluss fragte, ob sie mich vergessen hätten,

Mehrere Male durften wir mit ihm in der Stadt „sammeln“. Er mit der Büchse, wir etwas abseits neugierig zuguckend, wer was gab und wer nicht. Auch Listenhaus-Sammlungen machte er mit, zum Beispiel für die Winterhilfe.

Davon würden, so sagte man uns, warme Kleider für die armen Leute gekauft und Kohlen. Fast jede Woche wurde für irgendetwas gesammelt, auch wir Kinder mussten das unausgesetzt tun und ab da habe ich eine furchtbare Abneigung gegen Sammlungen aller Art. Meine Geschwister und ich entgingen zufällig dem Eintritt in die NSDAP. Mein Bruder war, als er achtzehn Jahre alt wurde, bereits Soldat und aus diesem Grund nicht mehr in seiner Heimatstadt, meine Schwester arbeitete bei Breslau als Tontechnikerin und ich ging in Weimar zur Schule. Meine Mutter trat in nichts ein, obwohl sie oft darauf angesprochen wurde, und das recht unverschämt. Auf den Straßen hatte man sich mit erhobenem Arm und „Heil Hitler“ zu grüßen und bekam mißbilligende Blicke zugeworfen, wenn man „guten Tach“ sagte. Es gab aber viele, die trotzdem weiterhin „guten Tach“ sagten.

Ich wurde also mit anderen gleichaltrigen Mädchen mit zehn Jahren in die „Jungmädchen“ aufgenommen. Das heißt, aufgenommen noch nicht, denn man musste sich ein Vierteljahr bewähren. Wir mussten einen blauen Rock und weiße Bluse anziehen, die „Uniform“. War das Vierteljahr rum, bekamen wir in einer Feierstunde schwarzen „Schlips und Knoten“ dazu. Ab da waren wir „aufgenommen“. Ich konnte dem „Dienst“ nichts Schönes abgewinnen, und mir graute vor den drei Nachmittagen in der Woche, wo wir antreten mussten. Wir lernten exerzieren, bekamen Phrasen aller Art eingedroschen und turnten viel. Auch Singnachmittage gab’s und Geländespiele wurden veranstaltet. Ein großer Teil dieser Sachen hätte mir Spaß gemacht, wurde aber durch die „Führerinnen“ total vermiest, und ich staunte, wie sich Mädchen, mit denen wir am Anfang unseres Zuzugs in dieses Städtchen als Nachbarn beisammen wohnten und mit denen wir gespielt hatten, sich verwandelt hatten. Sie sprachen kein privates Wort mit mir und auf der Straße wurde man angeschrien, wenn man sie nicht vorschriftsmäßig mit erhobenem Arm, gerader ausgestreckter Hand und einem lauten „Heil Hitler“ grüßte. Der Größenwahn hatte sie ergriffen. Als dann die Feierstunde heranrückte, wo wir Schlips und Knoten umgehängt bekamen, wartete ich umsonst. Als ich zum Schluss fragte, ob sie mich vergessen hätten, sagte meine ehemalige Spielgefährtin: „Du bist nicht würdig befunden worden, ein Mitglied der Hitlerjugend zu sein.“ Meinem Bruder und meiner Schwester ging es ähnlich und wir drückten uns, wann immer wir konnten. Ab und zu kamen dann böse Briefe an meine Eltern, denen gesagt wurde, dass es eine Pflicht sei, zum Dienst zu erscheinen.

Ich war als kleines Mädchen viel blasenkrank und lag deswegen jedes Jahr länger im Bett. Vom Turnen wurde ich oft befreit und aufgrund dieses Umstands bekam ich auch ein Attest von einem Arzt geschrieben, dass ich auch nicht den Dienst mittun könnte. Ich war restlos glücklich.

Wir Kinder fuhren jedes Jahr auf einem kleinen Teich Schlittschuh, der sich, einen steilen Abhang abwärts, unter unserem Garten am Fuß des Berges befand. Wir liefen die vielen Stufen der „Schlosstreppe“ hinunter. Rechts und links standen große Steinfiguren, die Löwen und Drachen darstellten, und am Fuß der Treppe lag gleich der Teich. Meine Mutter konnte uns vom Fenster aus zusehen und uns jederzeit rufen. Nur wenn das Eis so dick war, dass es von den Männern der Brauerei zersägt und mit großen Zangen auf Pferdewagen geladen wurde, mussten wir das Laufen unterbrechen, bis das Eis wieder fest genug war. Ausprobieren tat dies immer mein Bruder Karl. Manchmal wurde zwei- oder dreimal das Eis in Blocks zersägt und der Pferdewagen fuhr sie in tiefe Keller unter einem Berg bei der Brauerei. Die Blocks hielten sich tatsächlich den ganzen Sommer über. Das hatten wir natürlich neugierig feststellen müssen.

Eines Tages war aber die Schlosstreppe spiegelglatt, und um nicht dort hinunterzumüssen, lief ich einen Umweg und kam dabei an der Gauleitung vorbei. Plötzlich schrie eine Führerin zum Fenster heraus, dass ich mir ja nicht erlauben sollte, Schlittschuh fahren zu gehen. Sie war so alt wie meine Schwester und sie gingen in der Volksschule zusammen in die Klasse. Ich wollte mich wehren, kam aber nicht zu Wort und lief traurig heim.

Als meine Schwester den Grund meines Betrübtseins hörte, explodierte sie vor Wut, nahm mich bei der Hand und marschierte wiederum an der Gauleitung vorbei. Ehe das Mädchen, das sofort wieder das Fenster aufriss, etwas sagen konnte, drohte meine Schwester ihr mit allerlei Sachen, die sie von dem Mädchen wusste, und leise schloss sich das Fenster. Das unrühmliche Ende dieses Mädchens als Gauleiterin war die Absetzung wegen einer Unterschlagung.

Mein Bruder Karl machte im Sommer mal eine „Fahrt“ mit der HJ. Geschlafen wurde in einer Turnhalle auf Stroh, und abends, als es zu Bett ging, sagten die Führer, dass jeder Jungen sein Geld vorbringen solle. Einer hätte ja mehr, einer weniger, und es gehöre sich, dass alles gleich verteilt und verbraucht würde. Mein Bruder, misstrauisch, wie er im Gegensatz zu mir immer war, gab nur einen kleinen Teil seines Taschengeldes ab, und er tat recht. Den größten Teil davon versoffen die Führer noch in der Nacht und nur der Rest wurde für irgendwas „aufgeteilt“. Keiner wagte, was zu sagen, aber mein Bruder kam tief enttäuscht wieder nach Hause, zumal ihm in dieser Nacht auch noch sein „Dolch“ gestohlen wurde, den jeder Junge umhängen haben musste und den er gerade neu zum Geburtstag bekommen hatte. Auf der Scheide des Dolchs stand „Blut und Ehre“. Das war und blieb seine einzige Fahrt. Ähnlich erging es mir, und auch ich hatte nach einem Mal genug von der „Kameradschaft“.

In meiner Klasse hatte ich ein paar Jüdinnen und Halbjüdinnen. Die Halbjüdinnen durften am Anfang noch den „Dienst“ mitmachen. Den Jüdinnen aber war es ganz verboten, und ich besuchte öfter eins dieser Mädchen. Sie wusste, dass ich nicht zum Dienst ging, und sagte: „Kommst du heute Nachmittag?“ Diese Judenkinder taten mir sehr leid, denn es war ja ein großer Unterschied, ob man nicht mitmachen durfte all die Sachen der damaligen Zeit, oder ob man nicht wollte. Ich glaube aber, dass sie gar nicht wollten, denn sie wussten in politischen Dingen viel besser Bescheid als wir, und die Juden hatten bald heraus, wohin der Hase läuft, und handelten danach. Viele junge Familien wanderten aus

oder die Kinder kamen wenigstens auf andere Schulen, nämlich ins Ausland. So konnten sich doch noch viele Juden rechtzeitig aus dem Staub machen, bevor 1938 die Kristallnacht heranrückte.

In unserem Städtchen waren es meist alte Juden, die abgeholt wurden. Ein paar junge aber auch, die ihr Geschäft nicht im Stich lassen wollten und gehofft hatten, dass alles nicht so schlimm kommen würde. Ab 1941 mussten sie an der Brust den Judenstern tragen. Sie verschwanden ab 1942 in den Konzentrationslagern und nur wenige entkamen der Gaskammer. Ihre Häuser und der gesamte Besitz wurden beschlagnahmt und die Synagoge 1938 total dem Erdboden gleich gemacht. Die Gespräche meiner Eltern und deren Bekannte glichen damals vielen anderen Gesprächen. Nämlich, dass das das Ende sei und nun sicher sei, dass Hitler in seinem Größenwahn verrückt geworden wäre. Kamen solche Gespräche allerdings den „richtig Gesinnten“ zu Ohren, verschwand man gleich mit. Später bekam diese Generation von ihren Kindern und besonders Enkelkindern gesagt: Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Die Angst ums nackte Leben war zu groß. Jeder hatte Familie, und wer ließ diese schon gerne leiden, wenn man selbst den Mund auftat und erschossen wurde. Manche taten es. Sie waren die echten Helden, aber ihr Mut half ihnen nichts.

Dass aber irgendeine Untergrundbewegung bestand, wussten wir Kinder sogar, nur nicht, wer das war, und das war wohl gut so. Auch ist es Quatsch, dass manche Leute sich später herausreden wollten, sie hätten nicht gewusst, dass es Konzentrationslager gab. Jeder wusste davon. Als ich, sechzehnjährig, meine Schwester in Freiberg bei Breslau besuchte, liefen wir zu einem Bauernhof wo es noch Milch „so“ gab, nämlich ohne Lebensmittelmarken, und sogar Brot dazu. Wir saßen vor dem Haus auf einer Bank und sie zeigte mir, wie groß das Sperrgebiet des Konzentrationslagers Freiberg sei. Eine große Waldung umschloss das Lager.

Als ich in Weimar zur Schule ging, sagten wir Kinder oft: „Es riecht wieder so süßlich, sie verbrennen in Buchenwald wieder Leichen.“ Einmal musste unsere Schule um das Konzentrationslager auf dem Ettersberg herum, wo das Lager Buchenwald lag, Flugzettel suchen, die ein feindliches Flugzeug für die Gefangenen abgeworfen hatte. Wir wussten genau, dass die Menschen in den Lagern Entsetzliches durchmachten, aber wie entsetzlich, erfuhren wir dann erst am Ende des Krieges.

In Weimar hatte ich einen Lehrer, der meist in SA-Uniform in der Schule erschien. Er war ein unglaublich gefühlsroher Mensch und schüchterte mich so ein, dass ich vor seinem Unterricht stets große Angst hatte. Er gab Erdkunde, ganz im Sinne des Großdeutschen Reiches, und Staatskunde, noch mehr in diesem Sinn. Eines Tages wurde er eingezogen und kam auch sofort an die Front. Erstaunt war ich schon, denn er war einer der Art Leute, die sich immer erfolgreich und mit großem Maul im „Reich“ aufhielten und daher unentbehrlich waren. Durchweg die größten Feiglinge. Und o Wunder, nach kurzer Zeit fiel er für „Volk und Vaterland“. Er war der einzige, dem ich so richtig aus vollem Herzen den Tod gewünscht hatte.

Die Leute in unserem Städtchen wussten natürlich genau, wer in der Partei war und wer nicht. Eines Tages stritt sich meine Mutter wegen irgendetwas mit einer Frau, und diese drohte: „Sie werden was erleben, mein Junge ist in der Partei.“ „Was“, schrie meine Mutter, „Sie werden noch viel mehr erleben, denn wir sind alle in der Partei!“ Unsicher verließ die Frau die Szene und hat nie wieder so etwas gesagt. Im Gegenteil. Ihr Mann war ein notorischer Säufer und sie hatte viel zu leiden deswegen und schuftete von früh bis spät. Ihr ganzer Stolz war der einzige Junge. Er war ein paarmal sitzengeblieben und wurde dann ein einfacher Arbeiter, aber er gab seiner Mutter Geld und soff nicht. Bevor er anfing zu arbeiten, spielte er in unserer Gruppe der Kinder vom Schloss täglich mit, denn er wohnte am Schlossberg und gehörte damit dazu. Zu allem Unglück fiel dieser Junge dann

im Krieg und die Mutter holte sich viel Trost bei meiner Mutter. Sie hielt seine alten Spielgefährten in der Stadt an wo sie nur konnte, und erzählte, wie schön es früher gewesen sei. Es gab ihr einen gewissen Trost, dass ihr Kind wenigstens so eine schöne Jugend gehabt hatte.

Über uns wohnte eine Familie, dessen Oberhaupt Major war, aber aus gesundheitlichen Gründen wohl nicht mehr aktiv. Sie hatten ein Kind, einen Jungen, der mit mir in die Klasse ging. Er war so schlecht wie alle vom Schloss in der Schule und ein großer hübscher Kerl. Er kam dann recht bald zum Militär, und zwar als freiwillig gemeldeter Offiziersanwärter – und fiel. So eine Nachricht versetzte mir immer einen gewaltigen Stoß, aber der Stoß artete in Entsetzen aus, als die Mutter mir und anderen Leuten erklärte, sie sei stolz auf ihren Sohn, dass er für Führer und Vaterland gefallen sei. Parteiüberzeugung hin oder her, aber wie man so verbohrt sein konnte, war mir ein Rätsel.

Nach dem kurzen heftigen Aufschwung 1933 merkten Kenner an gewissen Sparmaßnahmen, dass irgendetwas in der Luft lag. Das war etwa ab 1936, 1937. Guter Anzugstoff wurde rar. Jedes Ding aus gutem Material, wie Gold, Silber, Stahl, Wolle, war nicht mehr aus dem Vollen zu haben. Gute Lederschuhe verschwanden. Kurz vor dem Krieg wurden all diese Sachen richtig knapp. Alles wurde schon Jahre für kriegswichtige Dinge verarbeitet. Und obwohl Propagandaminister Goebbels lauthals und überzeugend im Radio unentwegt redete, und er konnte prächtig reden, wie gut es dem deutschen Volk ginge unter Hitler, kamen die Zweifel schon bei mehr Leuten.

Goebbels, als kleines unscheinbares, humpelndes Männchen, musste von all den NSDAP-Größen seine Männlichkeit am meisten beweisen und hatte eine Affäre nach der anderen. Jedermann wusste davon und riss seine Glossen darüber. Von Hitler hörte man dergleichen nicht. Er war gut abgeschirmt, und die Abschirmer wagten nicht, ihm etwas anzuhängen. Meine Schwester besuchte Hitler einmal, als sie in den Alpen auf einer Landwirtschaftschule war, mit ihrer Klasse am Königssee. Er ließ sich inmitten dieser Mädchen, wie immer, jovial knipsen und sie bekamen Kaffee und Kuchen. Um dieses Foto wurde sie recht beneidet, denn nicht jeder hatte solch ein großes Glück gehabt, so nahe bei dem Gott Führer gestanden zu haben. Reichskriegsminister Göring wurde berühmt durch seine unentwegt mächtig anwachsende Leibesfülle, die er stets in phantasievolle Uniformen zwängte, liebend gern weiß, und durch seine Jagd- und Sammlerleidenschaft. Prunkvolle Jagdhäuser entstanden überall für ihn, sein Gefolge und seine ständigen Gäste. Sie waren gespickt mit berühmten Gemälden und Statuen, die er von überallher „geschenkt“ bekam.

Wenn die kleinen Größen in unserem Städtchen auch nicht alle besonders schlau waren und dementsprechend durch gewisse Taten auffallen wollten, so hatten wir das Glück, einen sehr anständigen Kreisleiter vorgesetzt zu bekommen. Gefeiert wurde zwar auch bei ihm unentwegt mit den Parteigenossen Nächte durch, aber er bekam keinen Größenwahn, war gerecht zu jedermann und half, soweit er konnte.

Solange wir in die Schule gingen, mussten wir in den Sommerferien „Ernteeinsatz“ machen, und zwar drei Wochen. Als erstes kam ich in einem Dörfchen Struth in einen Kindergarten; es war für mich ein ganz neues Gebiet und abends war ich durch den Lärm total erledigt. Der Bus hatte so schlechte Verbindung, dass ich sehr früh losfahren und warten musste, bis der Kindergarten aufgemacht wurde, und abends spielte sich dasselbe in umgekehrte Richtung ab. Ich weiß nicht mehr, wer diese Stellen vermittelte, jedenfalls ging ich dahin und bat um eine andere Arbeit, die ich im Haushalt einer Familie in Schmalkalden bekam, deren Vater Geschäftsführer in einer Süßwarenfabrik war. Drei Kinder hatte die Familie und die Frau erwartete das vierte und hatte sehr große Beschwerden. Großes Glück hatte ich hier. Alle waren nett und ich bemühte mich sehr, der

Frau zu helfen. Nach vierzehn Tagen bekam ich sogar fünf Mark Taschengeld als Bedankung geschenkt. Das Schönste aber war, es war schon Anfang des Zweiten Weltkriegs, dass ich mehrere Male Süßes, das es sogar schwer auf Zuckermarken gab, mit nach Hause bekam, wo es unter den Augen aller genau geteilt wurde.

Für die nächsten Ernteeinsätze hatten wir selbst etwas in die Wege geleitet. Mein Bruder Karl und ich halfen einer Bekannten, die nicht weit von uns auf einem Dorf ein Kinderheim übernommen hatte, in der Küche und bei der täglichen Arbeit. Leicht war das auch nicht, aber sehr abwechslungsreich. Wir schliefen dort und bekamen sogar Essen. Das half wiederum unserer Mutter, die Lebensmittelrationen etwas zu strecken. Monatlich wurden seit 1939 an jede Person Lebensmittelkarten ausgegeben. Brot gab’s drauf, Nährmittel wie Nudeln und Reis, außerdem Fleisch, Fett und Zucker, wofür man auch Konfekt kaufen konnte, was aber nie getan wurde. Ab und zu wurden Sonderrationen aufgerufen, wie zum Beispiel ein Kilo Pferdefleisch (das gab’s übrigens in doppelter Menge als anderes Fleisch auf die einzelnen Fleischabschnitte) oder mal fünf Eier oder 100 Gramm Fett. Ganz geringe Mengen Milch gab’s, nur für Kleinkinder wurde täglich ein halber Liter aufgerufen. Im Krieg selbst reichten diese Rationen aus, aber nach dem Krieg wurden sie knapper und knapper, und wer nichts „nebenbei hatte“, war am Rande des Verhungerns.

Monatlich bekam man die Aufforderung, wann die Lebensmittelkarten abzuholen waren. Plötzlich bekam meine Mutter zweimal hintereinander eine Aufforderung. Mutig marschierte sie auch das zweite Mal hin und nahm nochmals für uns alle die begehrten Karten in Empfang. Zu Hause beriet die gesamte Familie, ob wir die Karten behalten sollten oder nicht. Aber der Hunger siegte. Bis Ende des Monats wurden sie aufgehoben, falls doch noch der Irrtum aufgedeckt wurde, aber nichts geschah. Da schwangen wir zwei Schwestern uns aufs Rad und kauften ringsum in den Dörfern die Lebensmittelkarten ab. Im Städtchen getrauten wir uns das nicht, weil vielleicht irgendeine Verkäuferin stutzig geworden wäre. Das war ein Fest und wir kamen uns reich beschenkt vor wie ein König.

Mein Vater besserte auch von Zeit zu Zeit die Essensverhältnisse für seine Familie auf. Auf seinen Dienstreisen besuchte er die verschiedenen Mühlen, und da er immer verhungert aussah, obwohl er viel aß, bekam er ab und zu ein Säckchen Mehl von fünf oder zehn Pfund geschenkt. Je mehr er geschenkt bekam, umso leicht beschwingter und schneller rannte er heim. Mit Kleie waren die Müller schon großzügiger, denn das konnten sie fast mit gutem Gewissen abgeben, und da wir sie ja gut für unsere vielen Hasen brauchen konnten, ging ab und zu eins von uns Kindern mit, um die Last schleppen zu helfen. Wir liefen viele Kilometer. Aber vor lauter Freude über das Erstandene machte uns das nicht das Geringste aus. Auch vertauschten meine Eltern eine ganze Menge Anziehsachen gegen Mehl und dergleichen.

Ich war die einzige aus der Familie, die immer wohlgenährt und pummelig aussah. Woher das kam, weiß ich nicht, aber vielleicht von dem vielen Obst, das ich täglich aß. Ich verschlang davon unheimliche Mengen, denn es war ja genügend da davon. Wenn mein Vater wieder mal irgendwas zum „Hamstern“ im Auge hatte, nahm er mich mit zum Tragen. Kannten die Leute mich aber noch nicht, ließ er mich lieber in der Nahe warten. „Wenn sie dich sehen“, sagte er, „kriegen wir nichts. Du siehst zu gut aus.“ Meist aber kannten mich die Leute und ich durfte mit reingehen. Einmal bekamen wir drei Brote auf einmal geschenkt. Das war eine tolle Sache.

Meine Mutter hat, wenn sie einmal bei einem Metzger oder Kolonialhändler einkaufte, nie den Laden gewechselt. Sie war eine gute Kundin, denn ein Haushalt mit acht Personen brauchte schon eine Menge. Aus diesem Grund bekam sie in den schlechten Zeiten auch allerlei Kleinigkeiten zugesteckt außerhalb der Rationen und sie freute sich über jedes Häppchen. Bei der Bauersfrau, die in Friedenszeiten wöchentlich einmal zu uns kam und

uns Eier, Schmand, bestellte Schlagsahne, Geflügel und im Sommer Heidelbeeren brachte, durften wir uns auch zumindest Kartoffeln holen. Jedesmal, wenn sie kam, kochte meine Mutter ihr eine Tasse Kaffee, und die beiden Frauen unterhielten sich über ihre Kinder, von denen die Frau immer mal eins dabei hatte. Ein paarmal liefen wir auch zur Kirmes zu ihnen, mit unserem Mädchen Rosa. Als die Zeiten dann schlechter wurden, hatte sie nichts mehr zu bringen. Ab und zu besuchten nun wir diese Familie und stets bekamen wir ein paar Eier oder ein Stück Speck mit.

Eines Tages sagte mein Vater, dass ein Bauer ihm Zuckerrüben verkaufen wollte. Wir sollten sie uns aber selbst holen. Das Dorf lag weit, weit weg über einem Gebirgskamm. Wir hatten uns gerade einen größeren Leiterwagen gekauft mit Eisenrädern. Er war so schlecht gebaut, dass er schwer rollte, selbst am Berg hinab kaum. Mit diesem Wagen zogen also mein Vater und ich früh morgens los. Da ging’s noch ganz flott über das Gebirge. Ich glaube, wir bekamen drei Zentner Zuckerrüben und der Wagen war so schwer wie Blei und ließ sich kaum noch ziehen. Wir quälten uns furchtbar die Berge hinauf und spät in der Nacht kamen wir total erschöpft daheim an. Am nächsten Tag wurden die Rüben lange in Wasser geschrubbt in der Waschküche und auf dem Krauthobel kleingeschnitzelt. Als nächstes kochte sie meine Mutter lange Zeit im Waschkessel, drückte alles durch ein Tuch und kochte und kochte den Saft weiter, bis es schöner dunkelbrauner Sirup geworden war. Ach, wie wenig kleine Gläschen wurden aus den vielen Rüben. Aber sparsam gestrichen, konnten wir lange davon essen.

Mein Vater hatte ja ein Dienstauto zur Verfügung, wofür er Benzinmarken bekam. Benzin war so furchtbar rationiert, dass es ein überaus begehrtes Tauschobjekt war. Da mein Vater aber so gut wie nie dieses Auto benutzte und lieber die langen Wege über die Dörfer zu Fuß machte, tauschten wir zwei Schwestern diese Marken auch gegen Mehl ein. Und das lohnte sich. An beiden Händen zwei schwere Taschen, marschierten wir kilometerweit heim, und so konnte meine Mutter wenigstens Kuchen und Weißbrot backen, wenn auch fast ohne Zucker. Ein Kilo Butter kostete auf dem Schwarzmarkt 200 bis 300 und ein Liter Benzin vierzig Reichsmark, daher bekamen wir gut Mehl dafür, durchschnittlich einen Monatsverdienst, also etwa 900 Reichsmark. Und wieder ein anderes Mal kam ich mit meinem Vater in eine Mühle und wir fragten, ob sie nicht etwas Mehl für uns hätten. Das bekamen wir dann auch, wenn auch wenig. Aber die Frau hatte gerade frischen Streuselkuchen gebacken. Sie schnitt ein Blech auf, stellte es vor uns hin mit „Ersatzkaffee“ und forderte uns auf, zuzulangen. Das taten wir; obwohl es uns widerstrebte und wir uns schämten, aßen wir den ganzen aufgeschnittenen Kuchen in Windeseile auf und marschierten satt und voll heimwärts. Und noch einmal hatten wir solch ein wunderschönes Erlebnis. Am Ende vom Krieg wohnte eine Lehrerin bei uns, die Mutter aufnahm, weil sie nicht wusste, wohin. Sie bekam dann eine Lehrerstelle in einem winzigen Dorf, wo sie die gesamten Klassen in einem Raum gleichzeitig unterrichtete. Sie wohnte bei dem größten Bauern des Dorfes und ermunterte diese, uns immer mal zehn Eier oder zwei Liter Milch zu verkaufen. Flott und gewandt machte sie uns miteinander bekannt, erschien ab und zu mit einem der Kinder bei uns zum Kaffee und lud uns jährlich zu ihrem Geburtstag ein. Die Bauern waren ihr dankbar, dass sie sich so liebevoll um die Kinder kümmerte, und richteten ihr einen tollen Geburtstagskaffee. Da mein Vater ja tagsüber arbeiten musste, erschienen wir beide erst gegen Abend dort und sämtliche Geburtstagsgäste hatten schon Kaffee getrunken und waren auf dem Hof beschäftigt. Aber die Torte und die verschiedenen Kuchen standen noch auf dem Tisch, und wir wurden aufgefordert, „tüchtig zuzulangen“. Das taten wir, so allein gelassen, und als nach einer Weile die Bäuerin wieder reinkam, war sie sprachlos. Sämtliche Kuchenteller waren leer. Sie sagte kein Wort, aber die folgenden Geburtstagsfeiern verliefen anders. Wieder kamen wir später, aber von da ab bekamen wir jeder einen Teller Kuchen vorgestellt und der Rest

war vorsorglich beiseitegeschafft.

So was ist eigentlich unvorstellbar, aber durch den Fettmangel hatte man ewig Heißhunger, der sich kaum stillen ließ.

Das ist hier falsch

Selbstmord

Nicht weit von uns lebte ein Mann, der bei Hitlers Machtübernahme 1933 schon in der Partei, der NSDAP war. Er hatte allerlei Pösterchen in der Stadt und war 1939 bei Kriegsbeginn unabkömmlich für den Fronteinsatz. Nach sechs Jahren, in den letzten Kriegstagen, übernahm er das Kommando für den Volkssturm. Das waren nur noch Greise und Kinder, welche die Heimat zu verteidigen hatten. Mit nichts. Ein paar Panzerfäuste hatten sie, weil die in unserer Stadt hergestellt wurden, aber konnten sie natürlich nicht bedienen.

Als die Amerikaner näher rückten in Richtung Werra, etwa sieben Kilometer entfernt von Schmalkalden, uns also schon ganz mulmig wurde, bekam der Volkssturm eines Abends den Befehl, dem Feind in Richtung Werra entgegenzurücken. Manche machten mit aus Enthusiasmus, manche aus Angst, sonst als Verräter erschossen zu werden. Der Führer war oben erwähnter Mann. Kämpfe hat’s sicher nicht gegeben, aber man wusste es ja vorher nicht. Einer machte sich aber in derselben Nacht schon wieder heimlich auf den Rückweg, voller Angst, und versteckte sich: der tapfere, vorher immer so große Worte schwingende Anführer. Er muss die nächsten Tage furchtbare Ängste ausgestanden haben, denn als die Amerikaner auch bei uns eingerückt waren (ein Vierteljahr Amerikaner, denn Russen, und so blieb‘s. Die Russen bekamen Thüringen, dafür die Amerikaner ein Teilstück Berlins), versuchte der Mann seinem Leben ein Ende zu machen. Na ja, und dies ausgerechnet in unserem Garten.

Am Ende unseres Blumengartens in Richtung Schlossberg, stand die kleine Pfalz. Man ging etwa 15 Treppen hoch auf eine kleine Plattform, etwa vier mal vier Meter mit Mauer drumrum, wo ganz früher eine Kapelle stand mit Blasmusik oder so, um für die lustwandelnden Schlossleute und Gäste aufzuspielen. Denn ein Stück tiefer, an der Außenwand unseres Gartens, befindet sich die große Pfalz, ein hübscher gepflasterter Platz, recht groß. Am Rand der Kleinen Pfalz stehen drei uralte Akazien, zum Teil abgestorben, aber immer wieder blühend und in den Stämmen lauter Spechtlöcher. Unter dem großen Platz liegt der „unterirdische Gang“. Am Gartenende, neben der kleinen Pfalz, wo wir unsere Himbeeren stehen hatten, war der Eingang für den Gang. Hufeisenförmig, mit einer alten kaputten Tür, viele angeschlagene Treppen runter. In dem folgenden Gang hingen im Winter Hunderte von Fledermäusen, die im Sommer am Gebälk des Schlossbodens hingen.

Meine Schwester Erna marschierte fröhlich in unseren Garten, um sich einen Blumenstrauß zu pflücken. Sie hörte ein Stöhnen und fand den Mann in unseren schönen Himbeeren liegend, blutend. Er hatte das dicke Seil, das unsere Himbeeren zusammenhielt, abgemacht, es ein paar Treppen hoch über einen überhängenden Akazienast geworfen und sich eine Schlinge um den Hals geknüpft und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Das klappte nicht. Der Puls wich zurück. Deswegen gelingen viele solcher Versuche gar nicht: Man muss von hinten nach vorne schneiden. Der Mann hüpfte alsdann runter, um sich vorsichtshalber noch zu erhängen. Der Akazienast hielt, aber das morsche Seil nicht. So fiel er genau in die prachtvollen Himbeeren. Meine Schwester raste zurück und rief unsere Eltern und mich und meine Freundin Hannelore, die gerade bei uns war. Erna lief als erste zurück mit allerlei Bändern oder Tüchern, das weiß ich nicht mehr, und band dem Mann die Arme ab. Alsdann holten wir unser sehr winziges Lattenleiterwägelchen und legten Kissen rein und darauf den stöhnenden Mann. Kopf prima mit einem Kissen gestützt. Aber die Beine baumelten hinten raus. So rumpelten wir den Schlossberg runter hinein in die Stadt, denn das Krankenhaus liegt am anderen Stadtende. Vorne zogen meine Schwester und mein Vater, hinten, gebückt, liefen Hannelore und ich und hielten dem

Mann die Beine hoch. Es war gerade wieder, wie so oft, „Straßensperre“. Also kein Bewohner draußen außer eben überall die amerikanischen Wachposten. Die guckten uns erstaunt nach, sagten aber nichts.

Im Krankenhaus wurde der Mann gleich versorgt, mein Vater musste mit ins Büro, eben alles erzählen und unterschreiben. Währenddessen standen wir drei jungen Mädchen mit den Amerikanern zusammen und unterhielten uns mit ihnen mit unserem prachtvollen Schulenglisch. Es klappte aber sehr gut. Als wir dann gingen mit unserem Wägelchen, gab mir der eine Soldat plötzlich eine kleine Tafel Schokolade und eine Packung Kaugummis. Die kannten wir ja überhaupt nicht. Zufrieden liefen wir heim. Dort wurden beide süßen Raritäten ganz genau gleich aufgeteilt, auch mit meiner Mutter. Jedem schmeckte sein Stückchen Schokolade, ein lang vermisster Genuss, und jeder probierte das Kaugummi. Na ja, erfrischend war es und eben ganz was Neues. So hatten wir doch unseren Dank, denn meine Schwester und wir als Helfer hörten kein Dankeschön von des Mannes Familie. Als wir den Mann fanden, war Erna nach nebenan zu der Familie gelaufen. Hysterisch heulten die und schrien: „Lasst ihn sterben!“ Keiner half. Unglaublich!