Lehrer

Lehrer

Das Wort „Lehrer“ war und ist in meinem Leben immer ein Kapitel für sich. Ganz wenige kannte ich aus meiner Schulzeit und der meiner Kinder, die das Wort ehrlich verdienten. Und diese konnten sich sehen lassen. Sie waren gerecht zu jedem Kind, unterließen die blöden Witze und wussten Ihr Können weiterzugeben. Das merken die Kinder innerhalb von einer bis zwei Stunden. Sie arbeiten mit und tun etwas für diesen Lehrer, denn sie lieben ihn.

In der Volksschule hatte ich einen Lehrer, der seine Schülerinnen erst zum Lachen brachte und sie dann, wenn sie lachten, auf seine Weise verhaute. Er setzte sich auf einen Stuhl, die Schülerin mußte sich über seinen Schoß legen, er hob den Rock und verprügelte uns mit einem Rohrstock. Es kam, wie es kommen musste, er landete in der Irrenanstalt. Ein zweiter Lehrer, auch aus dieser Zeit, war nicht ganz so pervers. Er kam denn auch nur in eine Heilanstalt, aus der er bald wieder entlassen wurde.

In dieser Schule unterrichteten mich auch zwei Lehrerinnen. Sie waren Freundinnen, wohnten zusammen und verachteten die Männerwelt. Die eine war freundlich und nett, die andere aber hasste die Schulkinder und nahm jede Gelegenheit wahr, uns mit einem Lineal auf die ausgestreckten Hände zu schlagen. Das tat gemein weh und nachher hatte man gar kein Gefühl mehr in den Fingern.

Im Gymnasium dann gab’s einen Lehrer, er sonnte sich gerne nackt, der die Kinder mit ganzer Kraft ohrfeigte oder ihnen die Ohren langzog. Er war ein Könner in seinem Fach, brachte es aber nicht fertig, sein Können an die Kinder weiterzugeben. Aus diesen vielen Gründen war er unter den Kindern gefürchtet und verhasst. Eines Tages bekam ein Schulkind, es war sein Sohn Erich (Nachbemerkung von Karl Fenner), durch seine handgreiflichen Strafen eine schlimme Ohrensache, und der Lehrer hatte dadurch allerlei Schwierigkeiten zu bestehen. Ab da schlug er nicht mehr.

Einen großartigen Musiklehrer hatten wir. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seinen Schülern viel beizubringen, und er tat es mit ganzer Kraft und mit großem Einsatz. „Kein Mensch lernt nicht singen“, sagte er und hatte recht, jedenfalls soweit ich seine Bemühungen beobachten konnte. Er brachte mit viel Mühe jedem Kind bei, einigermaßen den richtigen Ton zu halten. Das ist schon sehr viel. Er gestaltete den Unterricht interessant und lustig und veranstaltete mit seinen Schülern und dem großartig geführten Chor sehr hübsche Musikabende – Zuschauer waren die Eltern. Er war verheiratet und nahm ein Kind an, da sie selbst keine bekamen.

So nett der Lehrer auch war, einen Fehler hatte er doch, und zwar einen gewaltigen. Wenn die Mädchen Strafarbeiten aufbekamen, mussten sie diese ihm nach Hause bringen. Bei diesen Anlässen „besichtigte“ er die Mädchen ausführlich. Wir Kinder wussten bald Bescheid, aber jeder schämte sich, zu Hause etwas zu sagen. Auch ich bekam eines Tages eine Strafarbeit auf. Ich besprach die Sache mit meinem ein Jahr älteren Bruder. Er ging mit mir zu dem Lehrer. Die Strafarbeit sah der gar nicht an, aber wir beide bekamen Plätzchen geschenkt und durften gleich wieder gehen. Eines Tages erzählte doch ein Kind von den „Besichtigungen“. Die Eltern taten sich zusammen und wir erwarteten neugierig einen großen Skandal. Der Lehrer wurde aber nur versetzt in ein Internat, wo er aus demselben Grund bald wieder gehen musste. Dann verschwand er aus unserem Blickfeld.

Ich erinnere mich aus meiner Gymnasialzeit weiter an zwei sehr nette und junge Lehrer, beziehungsweise Lehrer und Lehrerin. Damals war das Verhältnis zwischen Lehrern und Kindern ja noch weit auseinander und die Achtung war groß seitens der Kinder. Aber diese zwei jungen Leute ließen die Kinder an sich herankommen, sie ließen sie teilnehmen an ihren Gedanken, und das Ergebnis war fast ausschließlich gute Noten. Die beiden heirateten, und alle Kinder fühlten, dass diese zwei sich gesucht und gefunden hatten. Bald darauf wurden sie aber leider versetzt.

Auch in der Handelsschule hatten wir ein paar vorzügliche Lehrer. Einer, vorher hatte er schon ein bewegtes Leben in verschiedenen Berufen hinter sich, hatte sehr interessant seine Kriegserinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg aufgeschrieben, in dem er Offizier gewesen war. Er las uns aus diesen humorvollen Erinnerungen vor, wenn wir versprachen, vier Fünftel der Stunde gut mitzuarbeiten. Das taten wir und ungestört konnte er uns sein Wissen beibringen. Von Zeit zu Zeit bekam er aber einen Spleen und durchsuchte die Mappen der Schülerinnen nach „Schmökern“. Das war uns allen sehr unangenehm, denn wir waren schon in dem Alter, wo wir allerlei hygienische Dinge in den Mappen mitbringen mussten.

Überlastet waren aber schon damals einige Lehrer. Meistens sind es die armen Wesen, die Schwierigkeiten jeder Art mit dem Lehren haben und ihren Beruf verfehlten, denn zu diesem Beruf gehören Nerven und nochmals Nerven.

Mein Vater erzählte immer mit Freude folgende Begebenheit: Die Studenten eines bekannten Professors (Professor Weber, Marburg) trafen sich, als sie älter wurden und schon lange im Beruf standen, jedes Jahr zu Ehren dieses Professors, obwohl er schon lange tot war. Immer ein anderer „Ehemaliger“ bereitete in seinem Heimatort das Treffen vor. Er bestellte Zimmer für die Ehepaare, denn die Frauen kamen jedesmal mit, überlegte sich, was an Sehenswürdigkeiten oder schönen Ausflugszielen anzufahren oder anzulaufen sei, und bestellte dort die verschiedenen Essen beziehungsweise Busse. Dies war nicht leicht, besonders als die Männer alt wurden, aber jeder einzelne nahm diese Arbeit auf sich. Nur einer nicht, und das war ein Lehrer. Er konnte diese Arbeit wegen „Überlastung“ nicht übernehmen und legte dies seinen Freunden ausführlich schriftlich dar.

Die meisten Lehrer, man kann sagen, alle, waren in der Hitlerzeit natürlich in der NSDAP. Sie waren Beamte, und von diesen wurde verlangt, in der Partei zu sein, und keiner wollte seine Stellung verlieren, wie alle anderen Leute damals auch. Als 1945 die Kapitulation kam, wurden diese Lehrer sämtlich Arbeitslose. Nur ein paar konnten sich halten und überbrückten notdürftig die Zeit, bis in Kurzschulungen „Junglehrer“ herangebildet waren. Nebenbei bewarben sich auch mein Bruder und ich als „Junglehrer“, aber wir wurden abgewiesen, weil unser Vater ein höherer Beamter gewesen war. Uns war das wurscht. Wir waren jung und machten eben was anderes.

Die plötzlich stellungslosen Lehrer versuchten sich durch irgendeine andere Arbeit über Wasser zu halten, und das oft jahrelang. Es gab aber damals kaum Arbeit, und ich erinnere mich, wie dreckig es den armen Leuten zum Teil ging. Die Wendigen hatten bald eine Verdienstmöglichkeit gefunden. Manche „schoben“. Damals konnte man noch durch die Wälder über die Grenze schleichen, ohne erschossen zu werden. Man brachte also Ware nach „dem Osten“, die dort knapp war, und verkaufte sie den weit ärmeren Leuten in Ostdeutschland, wo fast alles knapp war oder es überhaupt nichts gab. Umgekehrt schleppte man im Westen knappe Ware im Rucksack bei Nacht und Nebel über die Grenze. Diese „Schieber“ lebten sehr gut. Manche wurden erwischt und ein paar Tage oder Wochen eingesperrt. Das machte damals gar nichts, und wieder entlassen, wurde munter weiter geschoben.

Manche wendigen Lehrer wurden Vertreter, und ich kenne zwei, die da enormes Talent entwickelten und auch später ihren erlernten Beruf nicht mehr ausübten. Der überwiegende Teil aber fand keine Arbeit und die Not war entsetzlich. Sie verdingten sich als Hilfsarbeiter bei den Förstern zum „Stumpenroden“. Die Baumstümpfe in den zerbombten Wäldern wurden herausgesprengt und der Wald wieder neu aufgeforstet. Sie halfen sehr viel den Gärtnern für einen Hungerlohn. Den Gärtnern ging es kurz nach dem Krieg recht gut, das heißt, wenn sie sich Samen durch irgendwelchen Tausch beschaffen konnten. Es gab ja nichts zu essen und so stopfte man Kartoffeln und Gemüse in sich hinein. Jedes Stückchen Rasen wurde von den Leuten umgegraben und bepflanzt. Fast jede Familie hatte Karnickel, denn die wurden nicht bei den Fleischmarken angerechnet. Gab’s kein Stück Garten, wurden die Tiere auf den Balkons gehalten (hierauf gab’s sogar einen Schlager) oder in Toiletten und Nebenräumen.

Die „Entnazifizierung“ ging langsam vor sich. Dabei wurde jeder „Nazi“ genau überprüft, was er in der Vergangenheit und damit in der Hitlerzeit getan oder nicht getan hatte. Jeder Entnazifizierte hatte nicht nur mit seiner Vergangenheit zu kämpfen bei diesen Untersuchungen, sondern auch mit den unheimlich vielen Denunziationen, die zum großen Teil nicht stimmten. Nach dieser Entnazifizierung wurde ein großer Teil Lehrer nun pensioniert. Die jüngeren kamen allmählich in den Schuldienst, und das war bitter nötig. Nachdem die schulische Sache nun einigermaßen gesichert war durch die wieder eingestellten Lehrer und die Junglehrer, hörten für die jungen Leute die Schnellkurse auf und die neuen Lehrerbewerber mussten wieder richtig ihren Beruf studieren.

So wurde der Ausfall nicht nur bei den Lehrern behoben. Auch bei den Ärzten, und da ganz besonders, war guter Rat teuer. Denn hier war die Abwanderungsquote in den Westen enorm und überall fehlten Ärzte. Es wurden sogenannte Hilfsärzte in Schnellkursen ausgebildet. Man nahm dazu meist ausgebildete Sanitäter. Diese Hilfsärzte verrichteten sämtliche Arbeiten eines Arztes, nur Totenscheine sollten sie nicht ausfüllen und natürlich nicht operieren. Aber auch dieser Punkt wurde oft überschritten. Als langsam die ersten jungen Ärzte fertig waren, die richtig studiert hatten, wurde den Hilfsärzten nahegelegt und geholfen, ein richtiges Medizinstudium nachzuholen. Manche waren aber schon in dem Alter, wo sie kein Studium mehr auf sich nehmen wollten.

Schmalkalden, 24. März 76