Verkleiden und Theaterspielen

Verkleiden und Theaterspielen

Verkleiden ist bestimmt eins der schönsten Kinderspiele. Mit ihrer Phantasie können sie sich so in andere Länder und vergangene Zeiten versetzen. Gehʼn tut’s auch ohne verkleiden, aber dann fehlt das i-Pünktchen dabei.

Karl und Selma auf der Schlosstreppe mit selbst angefertigten Kostümen und Perücken, etwa 1935

Besonders mein fast gleichaltriger Bruder Karl entwickelte bei diesem Verkleiden eine rege und phantasievolle Tätigkeit. Er las in Büchern über irgendwelche Heldentaten oder bekam beim Bilderangucken seine Ideen. Ab da hatte meine Mutter keine ruhige Minute mehr. Der Bruder wusste genau, was er brauchte, und er wusste ebenso genau, was meine Mutter in ihren Schubladen an alten Stoffen, Vorhängen und Kleidern liegen hatte. Sie wehrte sich stets verzweifelt, denn ihre Schätze rückte sie nicht gerne raus, zumal diese durch diese Vergewaltigungen meines Bruders ständig abnahmen. Dauernd verfolgte er die Mutter in den Garten, in den Keller, in die Waschküche und legte ihr, verstärkt durch mich, seinen Grund dar, warum er dies und jenes unbedingt brauche. Zermürbt von der unentwegten Verfolgung, gab meine Mutter am Ende immer nach und beglückt nahmen wir unseren Schatz in Empfang.

Es war nicht leicht für uns, die jeweiligen Kostüme zurechtzunähen, denn sie mussten genau stilgerecht sein. Aus diesem Grund lernten wir beide sehr früh Nähmaschinenähen, und wenn wir überhaupt nicht mehr weiter wussten, liefen wir zu einer bekannten Dame, die Weißnäherin war. Früher gab’s Schneiderinnen für Kleidungssachen und eben die Weißnäherinnen, die vorwiegend Bettwäsche nähten, Nachtwäsche und auch Unterkleidung, die ja bis Ende der zwanziger Jahre noch aus Leinen, verziert mit schönen Spitzen, getragen wurde. Dieses alte Fräulein war lange Zeit in Amerika gewesen und, wieder heimgekehrt, hatte sie sich ein Paar ihr angenehme Familien ausgesucht, für die sie nähte und später, in den Kriegszeiten, flickte. Das Fräulein liebte besonders meinen Bruder sehr, und sie half nicht nur bei unserer Näherei, sondern leitete uns geschickt an.

Ich kann mich erinnern, dass mir mein Bruder als erstes seiner Kostüme aus Pappe ein Germanenkostüm anfertigte. Der ganz kurze Rock war aus lauter großen Pappbogen an einen Gürtel genäht, und für die Brust fertigte er mir kleinem Mädchen zwei große Kreise an, die er einschnitt und zu einer Büste formte. Alles beklebte er mit Goldpapier und band mir die Sachen um. Für die Schuhe schnitt er zwei Sohlen aus einem alten Filzhut, nähte Seile dran und band mir die Seile überkreuz bis über die Waden hoch. Weil ich aber nichts drunter tragen durfte, fror ich furchtbar, und er erlaubte mir, außerhalb der naturgetreuen Nachbildung, aus weißem Voal einen Schleier locker über den Kopf zu legen. Er selbst brauchte als Mann nur den Rock und die Schuhe.

Karl und ich in Schmalkalden auf der Schlosstreppe, etwa 1935

(Kostüme und Perücke selbstgemacht)

Meist aus Vorhangstoff nähten wir uns lange Gewänder aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Mal mit großen Keulenärmeln, die wir mit Bändern benähten, mal mit gepolsterten Hüften. Pluderhosen wurden angefertigt und Wämse, schön gerafft mit kreuzweiser Verschnürung vorn.

Als wir von dem damaligen Museumsdirektor unseres Städtchens eine Krinoline geschenkt bekamen, bastelten wir sofort eine zweite. Das war furchtbar schwierig, denn mit richtigem Draht ging das nicht und Stahldraht gab’s nicht. Wir nahmen also ein paar große dünne Reifen, die, glaube ich, beim Räderanfertigen verwendet wurden, und verbanden sie mit breiten Bändern.

Aus Hanfseil zauberten wir kunstvolle Perücken. Das Gestell wurde aus Draht geformt. Dann zusselten wir das Seil vollkommen auf, ordneten es und nähten es auf das Drahtgestell. Die Locken und besonders unten an der Perücke die langen Schillerlocken formten wir mit Mutters Haarbrennschere und gaben ihnen mit Zwirn Halt. Jetzt musste die Mutter noch Unmengen von Voalvorhängen rausrücken, und als wir dann gesiegt hatten, gingen wir an die harte Arbeit, einen federleicht aussehenden gerafften Rock zu nähen, der über die Krinoline passte. Das kostete uns viel Kopfzerbrechen, denn die einzelnen Bahnen mussten ganz verschieden lang, je nach der Raffung, sein, weil ja der Saum unten wieder gleich lang sein musste. Zum Schluss wurde die ganz enge Korsage genäht und alles mit rosa Schlüpchen verziert. In diesem Kostüm knipsten uns besonders viele Fremde, die auf einer Reise unser Schloss besichtigen wollten. Von manchen bekamen wir dann das Bild geschickt.

Mein Vater hatte einen schweren, langen alten Stoffmantel, der Fee als Innenpelz hatte. Er hatte ihn früher gebraucht, wenn er im Winter endlos weit über die Dörfer im Pferdewagen seine Dienstreisen machen musste. Dieses Fell stach uns schon lange in die Augen und eines Tages bekamen wir den Mantel geschenkt. Wir nähten uns aus dem Fell Steinzeitkostüme und aus einem Teil machte mein Bruder sich einen Ritterumhang. Aus diesem Umhang nähte er mir im Krieg, als wir schon junge Leute waren, eine wunderschöne Pelerine, die ich viele Jahre trug, denn sie war warm und leicht und besonders, und sie passte haargenau.

Natürlich spielten wir mit den Nachbarskindern auch in diesen Kostümen Theater und Zuschauer mussten die armen Eltern sein und die kleinen Geschwister. Diese Freude am Theaterspielen veranlasste uns beide dann auch, als junge Leute in die Gruppe des BDM (Bund deutscher Mädchen) in die Abteilung „Glaube und Schönheit“ und wieder in deren Untergruppe „Spielschar“ einzutreten. Es war schon Anfang des Zweiten Weltkrieges und wir fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Ansonsten hatten wir mit dieser „Hitlerjugend“ nicht viel im Sinn und konnten uns meist erfolgreich vor dem ständigen „Dienst“ drücken. Mein Bruder und noch ein Jüngling wurden somit die einzigen männlichen Mitglieder des BDM.

Karl Fenner, Selmas Bruder, männliches Mitglied beim Bund deutscher Mädchen. Hier im Februar 1944 auf der Kleinen Pfalz in Schmalkalden. Sie gehörte, wie auch darunter der unterirdische Gang, zu unserem Garten.

Unsere „Proben“ zogen sich zuerst mit Witzen und dauerndem Gelächter hin und erst am Rand wurde geübt. Wieder nähten wir Kostüme und machten prachtvolle Kulissen aus großen Pappen und mit viel Farbe. Selbst die „Falada“ aus der Gold- und Pechmarie bastelte mein Bruder lebensecht mit offenem Maul und aufgerissenen Augen. Gerade dieses Märchen gelang uns so großartig, dass die Führerinnen des Kreises zusammengerufen wurden, um ihnen mal zu zeigen, was echte Laienscharkunst ist. Wir „Künstler“ waren für das Publikum unsichtbar. Im Laufe des Spiels stand Goldmarie vor dem Pferdekopf und sagte: „O Falada, da du hangest, wenn das meine Mutter wüsste …“ Da erschien im Pferdemaul eine Faust und dann das blöd guckende Gesicht meines Bruders. Dies war der Anfang vom Ende unserer Vorführung, denn ab jetzt lachten wir unausgesetzt, verhaspelten uns und fingen an zu blödeln. Mit steinernen Gesichtern saßen die unglücklichen Verantwortlichen der Einladung da und am Ende wurde das Stück abgebrochen. Als Resultat der Geschichte wurden wir vom BDM ausgeschlossen. Das kümmerte uns aber wenig, denn kurz drauf musste mein Bruder als Soldat in den Krieg ziehen und ich kam in eine andere Stadt auf die Schule.

Karl Fenner im Februar 1944, Heimaturlaub von der Front, auf der Kleinen Pfalz in Schmalkalden (gehörte, wie auch darunter der unterirdische Gang, zu unserem Garten)

Als 1945 der Krieg aus war, gründeten sich neue Parteien und damit für die Jugend im „Osten“ die „FDJ“ (Freie Deutsche Jugend). Unten an unserem Berg entstand in einem Haus ein Internat für angehende Lehrer. Diese Lehrer, meist in der FDJ, kamen auf den Gedanken, eine Spielschar zu gründen, und weil wir uns kannten und sie von unseren Künsten wussten, bildeten wir beide mit etwa vier bis fünf angehenden Lehrern eine neue Spielschar. Dazu mussten wir beide, als erste Schmalkalder, in die FDJ eintreten.

Zwei Wochen FDJ-Lehrgang , 7. September 1946, Karl und Selma markiert

Die FDJ-Proben verliefen wieder genauso munter, nur wurden unsere Stücke jetzt etwas anspruchsvoller. Wir spielten nämlich „Der zerbrochene Krug“. Lange Dialoge, wie zum Beispiel die Beschreibung des zerbrochenen Krugs, kürzten wir etwas und hofften, dass es keinem Zuschauer auffiel. In diesem Stück sah mich auch meine Schwiegermutter als Frau Marthe Rull zum ersten Mal. Mein späterer Mann hatte sie zu der Vorstellung eingeladen. Später erzählte sie mir, dass sie entsetzt gewesen wäre von der furienhaften Frau Rull und somit auch von ihrer zukünftigen Schwiegertochter.

Mittlerweile hatten die Junglehrer ihre Ausbildung beendet. Mein Bruder und ich hatten beide ein neues Hobby. Die Liebe. So löste sich diese neue Spielschar auf.

15. Februar 76