Unsere Rosa
Sie kam zu uns, als mein jüngster Bruder im zweiten Lebensjahr krank wurde und von da ab gepflegt werden musste. Wir lebten damals noch im Riesengebirge und Rosa wohnte in einem kleinen Dorf nicht weit von der Garnisonsstadt Glatz, in der mein Vater arbeitete. Ich war damals noch ein kleines Mädchen und kann mich an diese Glatzer Zeit nicht mehr erinnern. Die Erinnerung fängt erst an, als mein Vater nach Thüringen versetzt wurde und Rosa mitkam.
Rosa war ein strammes blondes, nicht allzu großes junges Mädchen. Wenn sie verlegen wurde, lief sie, langsam vom Hals herauf, rot an und fing an zu schielen. Das war sie meist dann, wenn wir Besuch hatten, und voller Vergnügen beobachtete ich immer das Schauspiel. Später, als ich größer wurde, tat sie mir deshalb leid.
Wir Kinder liebten Rosa sehr, denn sie war ja ein Bestandteil unserer Familie. Allerdings hatte sie auch bei uns nicht nur Zuckerlecken. Wir Kinder ärgerten sie, wo wir nur konnten, und sie hatte mächtig viel zu tun. Meine Mutter verlangte eine penible Sauberkeit, und das war bei fünf Kindern und einer riesengroßen Wohnung nebst einer großen Fläche Garten nicht leicht.
Morgens stand Rosa als erste auf und bereitete alles zum Frühstück vor. Auch putzte sie sämtliche Schuhe der Familie bis auf die meines Vaters und meines großen Bruders. Als nächstes standen meine Eltern auf, versorgten den kranken Bruder und weckten dann uns Kinder. Wir frühstückten alle zusammen. Rosa hatte neben sich in einem hohen Sessel den Bruder sitzen und fütterte ihn. Da das sehr langsam ging, setzte das stets meine Mutter fort, wenn sie fertig gegessen hatte. So verliefen auch die anderen Mahlzeiten.
Sehr selten saß Rosa mal und konnte stopfen oder sticken. Das hatte sie gut gelernt und stickte sich ihre gesamte Aussteuerwäsche, wie das damals üblich war. Meist aber hatte Rosa unentwegt zu tun und meine Mutter half ihr. Die Fußböden blitzten nur so und wurden jeden Tag gebohnert.
Es waren zehn Zimmer nebst Fluren, Treppen, Küche und einer Unmenge Nebenräume sauberzuhalten. Jede Woche musste einmal eine riesige Wäsche auf der Wäscherubbel saubergewaschen und im Kessel gekocht werden. Außerdem trug man zum großen Teil nur Leinenunterwäsche, dass also die gesamte Wäsche auch noch gebügelt werden musste. Weiter war der Gemüse- und Blumengarten zu bewirtschaften. Im Herbst erntete Rosa mit meiner Mutter in dem steilen Obstgarten die Äpfel und Birnen, und sie quälten sich mit einer unendlich langen Leiter an dem Abhang ab, sie richtig in den Baum zu schieben.
Fast jeden Nachmittag aber ging Rosa mit uns spazieren. Mein kranker Bruder wurde in einem Kinderwagen geschoben und später, als er größer wurde, in einem Zwillingswagen, wo sich eigentlich die Zwillinge gegenübersitzen. Jeden Nachmittag quengelten mein Bruder und ich, weil wir nicht mitgehen wollten, aber solange wir klein waren, mussten wir gehorchen.
Diese Spaziergänge gefielen uns aber eigentlich recht gut. Rosa konnte wunderschön erzählen von ihrer Heimat und ihren vielen Brüdern und, obwohl sie hochdeutsch sprach, ließ sich das Schlesische nicht verdrängen, und schon deshalb hörten wir gerne zu. Wenn es warm genug war, setzten wir uns auf eine Wiese und Rosa flocht uns aus Quendel (Thymian) ein Kränzchen oder aus anderen Blumen. Kränze binden konnte sie schnell und geschickt, und deshalb flocht sie auch jedes Jahr den großen Adventskranz, der in der Diele hingehängt wurde.
Rosa hatte sehr empfindliche Haut und daher immer aufgesprungene rote Hände. Meine Mutter gab ihr immer Salben dafür, aber nichts half, weil sie ja immer wieder in Wasser fassen musste. Von Zeit zu Zeit bekam sie auch einen Ausschlag, aber sonst war sie eigentlich immer gesund.
Ich wünschte mir so oft, dass ich mal ganz allein zu Hause sein könnte, aber das war nie der Fall, denn wenn die Eltern ausgingen, war immer noch Rosa da. Sie wohnte im Zwischenstock in einem kleinen Zimmer und ganz selten besuchte ich sie dort. Wir hatten streng verboten bekommen, in ihr Zimmer zu gehen, und daran hielten wir uns auch, denn Rosa musste ja ein Zimmer haben, wo sie allein sein konnte. Später ließ Vater noch ein zweites Zimmer im Zwischenstock für meine Schwester und mich ausbauen, ebenso klein wie Rosas, und wir waren sehr glücklich über dieses Zimmerchen nach den überdimensionalen im Obergeschoss.
Als Kinder wurden wir immer mal in die Kirche geschickt, aber eine gläubige Familie waren wir nicht. Nur Rosa, als Katholikin, stand jeden Sonntagmorgen früh auf und lief hinunter zum anderen Ende des Städtchens in den Gottesdienst. Auch abends ging sie manchmal dorthin. Als mein Bruder und ich größer wurden, begleiteten wir sie manchmal, nicht des Gottesdienstes wegen, sondern nur ihr zum Gefallen. Wir sahen auch, wie sie sich abschuften musste, und halfen ihr bei ihrer Arbeit. Wir Mädchen mussten uns ab zwölf Jahren sowieso die Wäsche wenigstens selbst stopfen und Pullover und so weiter alleine waschen. Wir putzen uns nun die Schuhe selber und trockneten mit Rosa ab oder schälten den täglichen Topf Kartoffeln; in kurzer Zeit konnten wir genauso schnell schälen wie sie. Wir gingen auch zusammen ins Kino oder Varieté und ich nehme an, dass Rosa Gott dankte, dass das Leben wenigstens etwas leichter für sie geworden war. Mein jüngster Bruder wurde ganz bettlägerig und nun wurde er im Bett gefüttert und konnte nicht mehr im Garten oder in der Wohnung herumgeführt werden. So wurde auch diese Sache für sie leichter.
Rosa hatte ein paar sehr nette Freundinnen, aber sie sahen sich, außer in der Kirche, nur ganz selten, denn damals waren die Mädchen einfach den ganzen Tag zu Hause und standen jederzeit der Hausfrau zur Verfügung. Jede Freizeit war eine Gunst der Herrschaft, und wenn also Rosa mal frei bekam, hatten noch lange nicht ihre Freundinnen frei. Rosa war rentenversichert von Papa und bekam fünfzig Mark im Monat. Als Rosa fünfzehn Jahre bei uns war, lud meine Mutter ihre Freundinnen heimlich ein und bereitete ein wunderschönes Fest vor, wozu sie sogar Torte beim Konditor bestellte, was alle paar Jahre nur einmal vorkam. Sie schickte Rosa zum Friseur, und die wusste überhaupt nicht, warum sie nun bei einer Gesellschaft plötzlich so schön sein sollte. Rosa freute sich furchtbar über das Fest, und wir Kinder durften, wie bei anderen Gesellschaften, nur guten Tag sagen und mussten dann wieder verschwinden. Bei anderen Gesellschaften bediente Rosa in einer weißen Schürze und meist bunten Voalblusen, die meine Mutter ihr nach ihrem Geschmack kaufte.
Jedes Jahr einmal fuhr Rosa heim zu ihren Eltern. Sie bekam damals ja nur wenig Lohn, aber davon hatte sie einen ganzen Teil ihren Eltern zu schicken, obwohl sie nun schon kein junges Mädchen mehr war. Mit ihren Eltern siezte sie sich noch.
Wenn die Reise heranrückte, war Rosa emsig dabei und kaufte ein. Für ihre Eltern und ihre Geschwister und später auch für deren Familien. Dick beladen brachten wir sie zum Bahnhof, glücklich fuhr sie ab und traurig kam sie wieder. Sie hatte eine sehr arme Familie. Als wir Kinder nun heranwuchsen und eigentlich alles weit leichter für Rosa sein musste, begannen Mutter und Rosa immer öfter zu zanken. Sie gerieten beide in Rage und schrien sich an, dass die Fetzen flogen, bis Rosa eines Tages sagte, jetzt wolle sie kein Dienstmädchen mehr sein, sie ginge. Mama war empört und wir Kinder verstanden sie recht gut. Rosa nahm ihr ganzes Habe und die ganze Aussteuer, die die Eltern ihr im Laufe der Zeit geschenkt hatten, mit nach Hause. Dort arbeitete sie in einer Kartonagenfabrik, aber es stellte sich raus, dass sie sehr asthmatisch war, was vorher gar nicht zu merken gewesen war, außer ihrem Ausschlag. Sie konnte keine Fabrikarbeit mehr annehmen und ging zur Post. Aber auch das hielten ihre Beine nicht aus. So ging sie wieder in Dienst, und zwar als Haushälterin zu einem Mann mit zwei kleinen Kindern, dessen Frau krank war und von einem ins andere Sanatorium geschickt wurde.
Meine Schwester arbeitete damals, es war schon Krieg, in Schlesien (erst in Breslau, dann in Freiberg) und ich besuchte sie dort. Da Rosa nicht weit weg lebte (in Habelschwerdt), ich war mit ihr in Briefverbindung geblieben, fuhr ich auch sie besuchen. Wir beide freuten uns mächtig, als wir uns wiedersahen, und sie führte mich in der gesamten Umgebung rum, um mir alles zu zeigen. Sie buk einen Kuchen und wir erzählten und erzählten. Die beiden Kinder, die sie zu versorgen hatte, waren recht artig. Der Junge hatte die Schuppenflechte, wodurch Rosa immer sehr viel Wäsche zu waschen hatte. Aber sie war selbständig, da der Vater der beiden Kinder unten im Haus ein Schreibwarengeschäft hatte und Rosa oben in der Wohnung ihr eigener Herr war. Rosa nahm sich einen Nachmittag frei und lief mit mir in ihr Heimatdörfchen Voigtsdorf, wo wir den Bruder besuchten. Bei ihm lebten auch ihre Eltern. Es war ein winzig kleines Dorf, und das Bauernhäuschen, das dem Bruder gehörte, bestand eigentlich aus einem Raum. Dieser Raum bildete Küche und Wohnzimmer. Eine Rinne lief mitten durch, das war der Wasserabfluss. Aber eine Wasserleitung war bereits an der Wand vorhanden mit einem runden, tiefen weißen Emaillebecken darunter, dessen Abfluss eben in diese Rinne floss und durch ein kleines Loch nach draußen. An einer Seite des großen Raums führten, über zwei Treppen, zwei Türen in je ein winziges Gemach, nämlich das Schlafzimmer des Bruders mit Familie und in das der Eltern. Alles war blitzsauber, und ich war froh, nun auch das Zuhause von Rosa zu kennen.
Kurz nachdem ich sie besucht hatte, mussten sie, ihre eigene Familie und die Familie, wo sie arbeitete, vor den Russen flüchten, und dabei verlor auch Rosa ihre gesamte kleine Habe. Die Frau ihres Dienstherren starb, aber obwohl wir dachten, dass er sie heiraten würde, nahm er eine andere Frau, und Rosa suchte sich eine Fabrikarbeit. Ihr Asthma wurde stärker und schlimmer und oft wurde sie in Kur geschickt.
Eines Tages schickte sie uns ihre Heiratsanzeige und ein Bild von sich und ihrem sehr stattlich aussehenden Mann. Wir freuten uns mächtig, dass sie nun versorgt war, denn die Heiratsvermittlungen meiner Eltern, die durch die katholische Zeitung einen Mann für sie suchten und wo auch zwei Bewerber zu Besuch kamen, klappten vor vielen Jahren nicht. Rosa war nun bald fünfzig Jahre alt und von ihrer Ehe hatte sie nicht mehr viel, denn recht bald darauf starb sie an ihrer Krankheit.
22. März 96