Ausgrabungen

Ausgrabungen

Wenn wir zum westlichen Schlosstor hinausliefen, runter in Richtung Stadt, lag vor uns ein Platz mit zwei herrlich großen Gärten, die liebevoll gepflegt wurden von den zwei kleinen Familien, die auf dieser Burgseite, Parterre und erster Stock, wohnten. Darüber lagen dann wieder die enorm großen und hohen Räume der ehemaligen Fürsten. Ein riesiger Süßkirschbaum war der Mittelpunkt einer dieser Gärten, und da die Besitzerin gehbehindert war und ihr einziger Sohn recht phlegmatisch, durften wir anderen Kinder jährlich die Kirschen pflücken. Dafür bekamen unsere Eltern einen Korb voll und wir durften so viel essen, wie wir wollten. Wir stahlen uns natürlich schon vor der Haupternte laufend Kirschen in der Annahme, dass wir nicht gesehen wurden. Aber Frau Kilb bemerkte uns sofort und freute sich.

Der erste Bürgermeister der Nazizeit (Kramer, am Kriegsende erschossen, obwohl nicht politisch tätig), ein immer stolz geradeaus blickender Mann, meist mit den Händen auf dem Rücken, hatte den Wahn, die gesamte Stadt mit Parks und Anlagen zu pflastern. Auch um das Schloss herum wurden nicht nur diese zwei Gärten gekündigt und lagen dann viele, viele Jahre brach und verkommen. Die Schönheit ringsum war Vergangenheit. In alten Archiven im Schloss kramte ein Lehrer hervor, dass von der alten Walrabsburg, die vor dem Schloss hier gestanden hatte, noch eine alte Pflasterung auf dem ehemaligen Exerzierplatz, eben diesen zwei Gärten, vorhanden sein müsse. Sämtliche enorm tiefen und festen Gewölbekeller stammten auch noch von der alten Burg. Eines Tages rückten viele Männer an und begannen zu graben.

Von da ab wichen auch wir Kinder nicht von diesem Platz. Wir waren recht artig und wohlgelitten von den Arbeitern, für die wir eine Abwechslung waren und denen wir auch Wege besorgten. Sie gruben immer tiefer Löcher und siehe da, man stieß auf einen Haufen Gerippe. Bei dem Schmalkaldischen Krieg wurden hier die Kriegsopfer begraben, stellte man fest. Mehr als Gerippe fand man aber nicht, obwohl die Stadtväter gern irgendeine Überraschung gesehen hätten.

Unser ältester Bruder Rudi studierte damals schon Medizin. Er gab uns den Auftrag, ihm einen schönen Totenkopf heraussuchen. Vollkommen ganz müsse er sein, schöne Zähne haben und einen schmalen Kopf. Diesen Auftrag gaben wir auch an die Arbeiter weiter, und sie hoben also Köpfe auf, die diesen Anweisungen entsprachen. Kamen wir dann aus der Schule, begutachteten wir zusammen die Totenschädel. Schwierig war’s, denn die Gebisse waren fast alle unvollständig. Zum Schluss fanden wir aber doch einen passenden und ließen uns beglückt vom Bruder loben.

Uns ließ es aber keine Ruhe, dass da noch irgendeine Attraktion fehlte und unser großer Bruder kam auf die Idee: ein altes Dokument. Dieses musste bei der Graberei gefunden werden. Viel Zeit, aber auch viel Spaß verwendeten wir alle, um diesen Gedanken fachgerecht auszuführen. Das Pergament war rasch vom Büro meines Vaters besorgt und wurde ganz vorsichtig angesengt. Nicht gleich das erste gelang, aber mit Geduld bekamen wir die richtige alte Färbung heraus. Wir schrieben mit gemischter Tinte in alten Lettern, wozu wir viele Vorlagen zusammensuchten, irgendeine fundamentale Begebenheit auf das Papier. Dann wurde das Pergament zugesiegelt, Vater hatte Siegellack, und in eine Blechdose gelegt. Diese Blechdose aufzutreiben war schwierig und sie auf alt herzurichten das Schwierigste. Aber wir fanden die Schachtel, und zwar von Zigarren, wo ein alter Herr schon viele Jahre seine Bleistifte drin aufbewahrte. Dann schlichen wir uns nachts auf den Exerzierplatz und überlegten genau, wo die Arbeiter demnächst graben würden, und dort vergruben wir unseren Schatz.

Aber wir warteten und warteten. Ausgerechnet an dieser Stelle grub niemand. Ganz traurig waren wir schon, als sie schließlich doch gefunden wurde. Wir ließen uns an diesem Nachmittag nicht auf dem Platz sehen. Am nächsten Morgen stand dann das Ereignis in der Zeitung und Experten begannen sich damit zu beschäftigen. Sehr bald merkte man den Betrug, aber davon oder irgendetwas anderes über unsere Schachtel stand nie in der Zeitung. Wir aber hatten unseren tagelangen Spaß gehabt.

Das Pflaster übrigens wurde auch noch gefunden, aber es war viel zu tief gegraben worden, denn es befand sich nur circa einen Meter unter dem Gartenboden. Es war aber schon so unvollständig, dass die Grabungen aufgegeben wurden und der Platz nun erst recht verödet dalag, bis er dann nach Jahren endlich als Park mit vielen Pappeln hergerichtet wurde. Er wurde noch mehrmals verändert und jedesmal ein Stück öder und kahler, wie das so oft der Fall ist und enorm kostet.

Die Ausgrabungen hinter dem Schloss nach unserem großen steilen Obstgarten hin habe ich auch irgendwo beschrieben.

Schmalkalden, den 19. November 99